Herz im Spiel (German Edition)
vergessen können. Dazu war Onkel Horaces Vorschlag zu eindeutig gewesen.
Sie versuchte an etwas anderes zu denken. Vergeblich. Ihre Erinnerung führte sie in den dunklen Wald, der unmittelbar hinter der Akademie lag.
„Von hier oben kann ich dich und die anderen hübschen kleinen Mädchen sehen“, hörte sie jemand dicht an ihrem Ohr flüstern. Marianne zitterte von Neuem, so als fühlte sie Onkel Horaces knochige Hand auf ihrem Arm und seinen übel riechenden Atem, sodass sich die feinen Haare in ihrem Nacken sträubten.
Sie dachte an das Buch in Mr Desmonds Bibliothek, jenes Exemplar der Ilias , und konnte beinahe den Duft des feinen Leders wahrnehmen, als sie sich erinnerte, wie sie darin den nicht abgeschickten Brief an Nedra entdeckte, in dem sie von Sylvia Prince geschrieben hatte und Sylvias Vater, dem Kapitän, der sich weit fort auf See befand.
Marianne wurde von einem unwiderstehlichen Zittern ergriffen. Beinahe gleichzeitig hörte sie ein Geräusch an der Tür. „Du lieber Himmel, Kind, hier drinnen ist es ja düster wie in einer Gruft. Warum zünden Sie nicht eine Lampe an?“
Aus ihrem Tagtraum aufgeschreckt, fuhr Marianne heftig zusammen und stand unsicher blinzelnd auf. „Ich hatte nicht bemerkt, dass es schon so spät ist“, stammelte sie.
„Sie und der Herr, Sie gleichen sich wirklich wie ein Ei dem anderen. Da sitzt er in seiner Bibliothek und kneift im Dunkeln die Augen zusammen, um ein Buch zu lesen, und Sie sitzen hier drinnen im Finstern.“
Wie aufgescheucht, lief die Haushälterin zu etlichen Lampen hin und hielt eine Flamme an ihre Dochte. Als der Raum zu ihrer Zufriedenheit beleuchtet war, ließ sie sich mit einem erleichterten Stöhnen in ihren Lieblingssessel sinken.
Marianne hörte ihr nur mit halbem Ohr zu. Mrs Rivers Eintreten hatte sie aus ihrer Versunkenheit gerissen, und nun horchte sie aufmerksam auf jeden Laut, der aus der Bibliothek dringen mochte. Zweifellos würde es auch dort drinnen kalt und dunkel sein, und Rickers, das war ihr klar, würde halblaut vor sich hin murren, weil er noch mehr Holz in den Raum schleppen musste. Hätte Mr Desmond es drinnen bei den Damen nicht bequemer?
Doch Mr Desmond hatte sich heute den ganzen Tag über abgesondert. Nach dem Mittagessen hatten sie miteinander gesprochen, und Marianne hatte lächelnd gelobt, ihn nicht zu stören, doch das war schon Stunden her. Seitdem war er, soweit sie wusste, nicht herausgekommen, um vielleicht etwas zu trinken oder sich die Beine zu vertreten. Er musste sie gehört haben, als sie dieTreppe hinuntergekommen war, aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, nach ihr zu sehen. Darüber konnte sie gegenwärtig auch kein Bedauern empfinden.
Aber wieso huschte, wenn sie Mr Desmond nicht sehen wollte, ihr Blick so häufig zu den Türen der Bibliothek, dort auf der anderen Seite der Eingangshalle?
Schließlich rief Candy sie zum Essen. Mrs River nahm die Ankündigung des neuen Mädchens mit einem zufriedenen Nicken zur Kenntnis und stand auf. Marianne blieb nichts weiter übrig, als voranzugehen.
Mr Desmond war vor ihr da. Er stand neben seinem Stuhl und sah zur Tür. Offensichtlich hatte er nur auf sie gewartet, um das Dinner auftragen zu lassen. Er nickte ihr zu und setzte sich. „Mrs Rawlins soll irgendetwas bringen lassen, ehe ich völlig verhungere“, wies er Candy mit einem schalkhaften Lächeln an.
„Tja, nun ist der Tag wirklich sehr ruhig verlaufen. Vielleicht wünschten Sie ja inzwischen, ich hätte nicht all diese Einladungen abgelehnt“, meinte Desmond zu Marianne.
„Ich glaube nicht, dass ich heute besondere Lust gehabt hätte, unter Leute zu gehen“, erwiderte sie niedergeschlagen. Zugegeben, ihre Laune wäre besser gewesen, wenn sie heute eine Beschäftigung gehabt und gar nicht daran gedacht hätte, in den Nordflügel zu gehen.
Nach dem Abendessen dachte Marianne erleichtert, jetzt würde Mr Desmond sich wohl auf sein Zimmer zurückziehen und sie sich in ihres. Doch Mrs River war gut gelaunt und bot ihre ganze Überredungskunst auf, damit der Herr und die liebe Miss Trenton sich zu ihr in den Salon setzten. „Wir wollen uns doch heute Abend nicht in alle Winde zerstreuen. Nichts ist trübsinniger, als einen Feiertag allein zu verbringen“, meinte sie.
Gehorsam trotteten sie in den Salon, doch die gute Frau mochte Mr Desmond und Marianne immer noch nicht in Ruhe lassen. Es half nichts: Marianne musste ein Lied singen, und dann sollte Mr Desmond etwas aus den eleganten
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