Ich vergebe dir - Bucciarelli, E: Ich vergebe dir - Io ti perdono
2
»Komm, meine Kleine!« Eine Gestalt beugt sich zu dem kleinen Mädchen herab, streckt ihm die Hand entgegen. Es wäre ein Leichtes, sie zu fassen, aber das Mädchen reagiert nicht.
»Na komm, hab keine Angst«, insistiert die Gestalt, ohne sich von der Stelle zu rühren und betrachtet die von Tränen überströmten Wangen der Kleinen.
»Warum weinst du denn?« Hinter dem Mädchen taucht hechelnd der weiße Hund auf. Schnurstracks steuert er auf sie zu, um sie abzuschnüffeln. Das Mädchen schreit auf, und er lässt von ihr ab, um nach einem anderen Spielzeug Ausschau zu halten. Arianna schnieft und blickt ins Leere. Sie schluchzt, als versuche sie etwas zu sagen, das sie noch nicht in Worte fassen kann. Sie schluckt und ruft den einzigen Namen, den sie kennt: »Mama, Mama«.
Es sind kaum zehn Minuten vergangen. Die Waldluft ist noch lau, doch die ersten herbstlichen Blätter bedecken bereits die Erde und verhindern das Zurückbleiben von Fußabdrücken. Sie dämpfen die Geräusche, die überdies schon durch den nahen Wasserfall verschwimmen, dort, wo der Evançon einen letzten Satz macht, bevor er langsam zur Ruhe kommt und, fast reglos, unter dem römischen Aquädukt durchfließt.
Die Gestalt nimmt das Mädchen bei der Hand und schaut sich vorsichtig um. Keine Menschenseele. Nichts als Stille. Einen Moment lang scheint es, als versuche die Gestalt, Witterung aufzunehmen. Auf den Wind zu hören. Sie kneift die Augen zusammen und ruft mit einem lautlosen Pfiff den Hund herbei. Dieser wedelt freudig mit dem Schwanz und folgt ohne viel Aufhebens der angegebenen Richtung. Arianna macht einige unsichere Schritte und reicht vorsichtig ihre kleine rechte Hand. Die Gestalt ergreift sie, beschwichtigt, verspricht. Das kleine Mädchen kann nicht anders, als ihr zu vertrauen. Es hat keine Wahl. Zusammen folgen sie dem Hund, der immer schneller wird.
Jetzt ist Arianna auf dem Arm. Sie schaut zurück. Ob ihr jemand folgt? Ob Mama sie einholt? Doch die erwachsenen Schritte eilen immer schneller voran, ohne ein einziges Mal innezuhalten. Bis sie schließlich ganz verschwunden sind.
3
Waldluft ist immer etwas feucht. Trockene, von Laub bedeckte Zweige knacken unter den Füßen und erinnern an das Knistern eines Kaminfeuers. Der Duft von Latschenkiefern weitet die Lungen. Nadeln bohren sich in die Schuhe hinein. Aufgeplatzte stachlige Schalen, aus denen eine braune Frucht hervorlugt.
An diesem Nachmittag waren sie nur wenige zum Kastaniensammeln gewesen. Kleine glänzende Kastanien, angestrahlt von der Sonne, die das Blattwerk durchbrach. Hier und da war eine dunkle, schmutzige und noch bittere Nuss darunter gewesen.
»Seid vorsichtig, Kinder. Stellt euch nicht unter die Bäume, sonst fallen euch die Kastanien auf den Kopf.«
Die einen gebückt, die anderen kauernd, hatten die Kinder mit ihren kleinen Fingerchen die braunen Früchte gesammelt und dabei munter drauflosgeplappert. Kinder und Erwachsene hatten sich über den Wald verstreut. Einen Kastanienwald zu finden, ohne Besitzer oder missgünstige Bauern, hatte sich als recht schwierig herausgestellt. Doch da war er nun, mit hohen und prall gefüllten Bäumen.
Sechs Erwachsene und fünf Kinder. Eines allein, die anderen jeweils zu zweit. Arianna, die Jüngste, ebenfalls unter ihnen.
4
Hauptkommissarin Maria Dolores Vergani schlenderte durch das halb verwaiste Dorf. Die verfallenen Rascards , die typischen Holzbauten des Ayas-Tals, waren hier durch Steine verstärkt worden. Ab und an begegnete sie einem Einheimischen mit Holzpantinen an den Füßen, deren Klappern auf dem mit Kopfstein gepflasterten Sträßchen bei jedem Schritt widerhallte. Im Oktober waren die Touristen bereits weg. Und im Tal kehrte wieder der Alltag ein.
Dort oben, auf fast 2000 Höhenmetern, traf man bestenfalls noch einige wenige Bergsteiger an, die beharrlich und trotz Regen und Kälte versuchten, die Berghütte Mezzalama zu erreichen. Nach langem, entbehrlichem Aufstieg – einer von vielen Versuchen, der Natur zu trotzen.
In diesem, wie es schien, menschenleeren Dorf war Maria Dolores Vergani auf dem Weg zu einem Priester. Sie kannte ihn von früher, aus den Sommerferien, als sie noch ein kleines Mädchen war. Ein ausgemergelter Mann, der nur aus Haut und Knochen bestand, mit tief liegenden Augen, einer hervorspringenden Nase und einem schmalen, kleinen Mund. Seine spärlichen, dünnen Haare waren fast vollständig ergraut. Er stammte ursprünglich nicht aus dieser Gegend. Und obwohl er
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