Herz und Fuß
Regenschauer huschte über die Plattform und hinterließ eine feine Gänsehaut auf meinem Arm. Der Tag hatte plötzlich viel von seiner Wärme verloren. Warum stellte jemand einen Schuh mit einer wunderschönen roten Rose und einer extrem hässlichen grünen Wollsocke auf das Dach des Gasometers? Ich krempelte den Strumpf langsam tiefer, um zu sehen, was für eine Art Schuh es war. Falls Helmut doch einen seiner durchgeschwitzten Arbeitsstiefel im kleinen Grünen als Spaß hier für mich auf die Plattform gestellt hatte, dann würde sein Abend unerfreulich enden. Aber Helmut würde keine vollkommene Rose für mich auf den Schuh legen, ich war mir nicht einmal sicher, ob Helmut wusste, dass es Schnittblumen gab. Der Strumpf war ziemlich lang und eigenartig steif, fast wie gefroren. Er ließ sich nur schwer krempeln. Schließlich erreichte der Strumpfbund den Rand des Schuhs und das Leder wurde sichtbar. Ich hatte irgendetwas Dunkles erwartet, das wurde mir plötzlich bewusst, als der Rand erschien.
Das Leder war aber nicht dunkel. Es war blass. Es war blass, es war bläulich und marmoriert.
Mein Blut schoss aus dem Kopf, weil es nicht mehr in der Nähe meiner Augen sein wollte, und sammelte sich brodelnd im Magen. Die Magensäure tanzte von dieser Invasion beleidigt schäumend nach oben. Ich würgte und fühlte mich leicht werden. Ich starrte auf das obere Ende des Schuhs und sah den glatt durchgesägten Knochen umgeben von gefrorenem Fleisch.
Das war kein Leder.
Das war kein Schuh.
Das war ein menschlicher Fuß.
Dann fiel ich um.
Der Himmel über mir
war dunkel und der Boden unter mir warm.
»Charlie! Charlotte!« Aus dem Funkgerät schallte hektisch mein Name. Ich schlug beide Augen gleichzeitig auf und sie starrten ins Grüne. Der feine Flaum aus winzigen Fasern, der die dicken, grünen Wollfäden umgab, kitzelte meine Nase. Ich fuhr entsetzt hoch und mein rechtes Knie tat dabei höllisch weh. Offensichtlich war ich zuerst auf ein Knie gesackt und dann seitlich umgekippt. Genau neben den gefrorenen Fuß, der immer noch dort stand und dem nichts mehr wehtat. Mir wurde schlecht. »Helmut …« krächzte ich würgend und schluckend in das Funkgerät, dessen Sprechtaste ich endlich gedrückt hatte. Ich blickte flehend zu der Überwachungskamera, die ihre Bilder an seinen Arbeitsplatz übertrug. Bewegen konnte ich mich nicht, mein ganzer Körper fühlte sich taub an und mir war, als würde auch ich am Boden festfrieren.
»Bin unterwegs« kam seine Antwort und ich konnte hören, wie sich die Tür des Außenaufzugs in der Ferne quietschend öffnete. Er war schon fast da. Wie lange hatte ich hier gelegen? Ein paar Minuten sicherlich, es war jetzt schon ziemlich dunkel und der blaue Lichtkranz strahlte hell. Ich schielte wieder hinunter auf den Boden. Gleich würde ich nicht mehr allein mit diesem … diesem Ding hier sein. Helmut kam für sein Alter ungewöhnlich schnell über den Rundkurs zu mir herab. Die sandfarbene Weste mit den vielen Taschen, die er täglich trug, wehte trotz der vielen praktischen Werkzeuge, die in ihr verborgen waren, leicht an beiden Seiten nach hinten. Auf der Plattform angekommen, stellte er sich stützend neben mich. Ich deutete ohne jede Einleitung auf das Stillleben am Boden. »Das ist ein Fuß, Helmut, ein menschlicher, gefrorener, toter Fuß. Und eine Rose, pflanzlich, aber auch gefroren. Hat hier irgendein Wahnsinniger abgestellt.«
Es auszusprechen machte es in einem neuen Maß schrecklich und mir wurde wieder schlecht.
Helmut betrachtete den toten Fuß und schüttelte in einer eigenartig ruckartigen Bewegung seinen Kopf. Er seufzte dabei einmal tief, dann wackelte der Kopf still weiter. Sprechen war nicht seine Art. Er hatte dreißig Jahre lang die Straßen Europas allein und schweigend aus dem Führerhaus eines Lkw vorbeiziehen sehen, bevor er als Frührentner diesen Hausmeisterjob angenommen hatte. Selbst Lobbyisten für die Tabakindustrie hätten in dieser Situation wohl nach den passenden Worten gesucht.
»Polizei …«, stellte er nach langem Schweigen fest, als hätte er die Lösung für eine komplizierte Rechenaufgabe gefunden.
Wir sahen uns kurz an. Er war ein kleines bisschen blasser als sonst und die Furchen auf seiner Stirn schienen tiefer zu sein. Ich war froh, dass ich mein eigenes Gesicht nicht sehen musste, und nickte.
Seine Schulter tippte ganz leicht an meine. »Bist du in Ordnung?«
»Auf
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