Herz und Fuß
natürlich auch erschienen war, in echte Verzweiflung getrieben. Tod war eine Sache, finanzieller Verlust eine ganz andere. Ich organisierte alles gründlich und befand mich in einem eigenartigen Zustand, in dem ich nicht gehen wollte und nicht bleiben konnte. Ein paar Mal spielte ich mit dem Telefon und überlegte, ob ich Baby, meine beste Freundin, anrufen sollte. Aber wie eröffnete man ein Gespräch über menschliche Teile, die man kurz vor Feierabend gefunden hatte? Du rätst nicht, was mir heute passiert ist?
Immer noch erhellte viel künstliches Licht den ansonsten so dunklen Bereich um den Gasometer. Auf dem Kanal lag ein Boot der Wasserschutzpolizei und erschreckte die Ratten am Ufer mit einem großen Scheinwerfer. An dunklen Winterabenden begegnete ich den klugen Nagern manchmal auf ihrem Weg zu unseren Papierkörben. Sie hatten es nie sonderlich eilig, sondern gingen vorsichtig und spähten wählerisch in jeden Korb, als arbeiteten sie einen winzigen Einkaufszettel ab, den sie in ihrem grauen Fell verborgen trugen. Ich grüßte sie freundlich, ohne ihnen zu nahe zu kommen, so wie ich entfernte Bekannte grüßte, wenn ich sie auf dem Markt traf. Wie diese Marktbekannten, grüßten sie eher verhalten zurück.
Jetzt sah ich den Fuß plötzlich wieder deutlich vor mir. Würden sie noch mehr menschliche Teile bei uns finden? Auf dem Dach lag ein Fuß. Lag im Erdgeschoss ein Kopf? Mit einer grünen Mütze? Der sanfte Hauch von Normalität, der sich schmeichlerisch über die Einsatzpläne gelegt hatte, erhob sich und wurde von einem Luftzug durch das gekippte Fenster hinausgeweht. Das Bild eines kalten, grünen, weit verstreuten Menschenpuzzles erschien vor mir im Raum und ich bekam plötzlich nicht mehr genug Luft. Eine unsichtbare Hand drückte mir auf den Brustkorb und ich atmete verzweifelt gegen den Druck. Zu viele Fragen. Wer war der Mensch, der auf dem Fuß gestanden hatte? Wo war der Mensch, der dafür gesorgt hatte, dass er es nicht mehr tat? Hier in der Nähe? Draußen in der Dunkelheit hinter dem vielen Licht? Meine Luftröhre fühlte sich wie der grüne Wolltunnel an, in den ich gefasst hatte. Kratzig, eng und kalt. Ich stand auf und machte hektisch die Schreibtischlampe aus, ich musste dringend nach Hause, lange duschen und schlafen. Es klopfte an der Tür, die Klinke wurde hinabgedrückt und ich erschrak heftig. Da war er, der Wollstrumpfmörder, er kam, um mich zu holen. Ich tastete in der Dunkelheit hektisch nach dem Brieföffner.
»Entschuldigen Sie?« Ein junger Mann mit einer großen schwarzen Kamera vor dem Bauch schob die Tür auf und lächelte mich an. Mein Magen pochte bis zum Hals.
»Was?« Ich brüllte den Fremden an. Wo war der verdammte Brieföffner, ich verhedderte mich im Kabel der Computermaus.
»Keine Angst. Ich bin von der Presse« Er hielt lächelnd einen Presseausweis hoch und trat sicherheitshalber einen Schritt zurück.
Da wir schon seit Langem nur noch elektronische Post hatten und deshalb gar keinen Brieföffner besaßen, nahm ich meine Tasche, ging mutig auf ihn zu und schob ihn vor mir aus dem Büro.
»Sie haben den Fuß gefunden, nicht wahr?« Er schoss lächelnd ein Bild von mir.
Ich schloss ab, während er immer weiter redete und fotografierte. Warum mir nicht die Idee kam, ihm das zu verbieten, war mir später selber unerklärlich.
»Schlimme Sache! Sie waren geschockt? Sie waren allein da oben? Wahrscheinlich mit einem verrückten Mörder? Es war nur ein Fuß? Im Schuh? War da ein Brief? Haben Sie den Fuß angefasst? Wie hat er sich angefühlt?« Seine schnellen, lauten Worte wurden von kurzem, hellem Licht begleitet wie Donner von Blitz. Ich eilte mitten durch mein privates Gewitter schweigend den Weg zur Kasse entlang. Der Fremde folgte mir bis zur Kassentür wie ein feuchtes Stück Toilettenpapier, das einem am Absatz klebte, und blieb dort ob meines nachhaltigen Schweigens an einem neuen potentiellen Gesprächspartner mit weißem Kittel hängen. Ich sah nachdenklich zu, wie das Gewitter weiterzog. Helmut wartete schon auf mich und gemeinsam schlichen wir auf Umwegen zu unseren Wagen, die nebeneinander auf dem Parkplatz standen.
»Bin morgen trotzdem hier«, murmelte Helmut als Abschiedsgruß und das brachte mich zum Lächeln. Die Ordnung der Welt war nicht komplett zusammengebrochen.
Zu Hause in Duisburg angekommen schlich ich leise an der Wohnung meiner Mutter im Erdgeschoss und an meinem eigenen wild
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