Herzbesetzer (German Edition)
mich abermals unwillentlich rührt. Das wiederum erfüllt mich mit Wut, und ich unterdrücke den Impuls, ihm in den Hintern zu treten.
Natürlich hat meine Mutter ihm Benjamins Bett bezogen. Seit Bennis Tod wurde dieses Zimmer nicht mehr benutzt, nicht mal für Besuch. Es wird regelmäßig sorgfältig sauber gemacht, und wenn ich hier bin, gehe ich rein und bleibe eine Weile drin. Ich setze mich aufs Bett oder an Bennis Schreibtisch, berühre die Dinge, mit denen er sich umgeben hat, bohre die Nase in sein Kissen, betrachte die Fotos an den Wänden, öffne den Kleiderschrank und lasse meine Hand über seine aufgereihten Hemden gleiten. Das ist so etwas wie mein persönlicher Totenkult. Sogar meine Eltern respektieren das und kämen nie auf die Idee, mich dabei zu stören. Und jetzt haben sie diesen wildfremden Bengel hier einquartiert, der vermutlich neugierig in jede Schublade gucken und sich mit seinen dreckigen Stiefeln aufs Bett legen wird.
»Hör mal, das hier ist das Zimmer von meinem Bruder«, warne ich ihn. »Ich möchte nicht, dass du hier irgendwas anfasst oder so, okay?« Anoki konzentriert sich darauf, den Verschluss seines nietenbesetzten Lederarmbands zu öffnen, und antwortet: »Ist es in Ordnung, wenn ich die Nacht über hier stehen bleibe?«
Mir verschlägt es wieder die Sprache.
»Wie ist das denn passiert, dieser Unfall da mit deinem Bruder?«, fragt er dann. Irgendjemand muss ihm schon davon erzählt haben.
Ich schlucke einen Augenblick an meiner Wut herum, dann sage ich: »Ich bin am Steuer eingeschlafen.« Besser, wir machen direkt reinen Tisch. Es hat keinen Sinn, ihm was vorzuspielen oder meine Schuld zu verschweigen; er kriegt es ja sowieso spätestens morgen raus.
Anoki kriegt große Augen. » Du bist gefahren?«, sagt er geschockt.
Ich habe diese Geschichte schon länger niemandem mehr erzählt und merke, dass ich weiche Knie bekomme, weshalb ich mich auf Benjamins Schreibtischstuhl sinken lasse.
»Ja«, sage ich, »und ich hatte sogar was getrunken. Und ich hatte ihn mit in die Disco genommen, obwohl er erst vierzehn war und meine Eltern das ausdrücklich verboten hatten. Ich hab gegen alle Gesetze verstoßen, und deshalb ist er jetzt tot.« Der Schmerz in meiner Kehle ist mir vertraut; ein ständiger Begleiter. Ich sehe Anoki nicht an, daher weiß ich nicht, wie er dieses Bekenntnis aufnimmt, und zunächst gibt er keine Antwort.
Dann sagt er: »Du warst bestimmt so’n großer Bruder, den jeder gern hätte.«
Überrascht hebe ich den Kopf. Er lächelt mich an, ohne Sarkasmus, einfach freundlich. »Wie meinst du das? Ich hab ihn umgebracht «, sage ich. Vielleicht hat er das ja noch nicht kapiert.
Anoki schüttelt leicht den Kopf und antwortet: »’n Scheiß hast du. Du hast den mitgenommen, weil du dem ’ne Freude machen wolltest, oder? Der muss ja total stolz gewesen sein. Mit vierzehn in die Disco – cool!«
So was hat mir noch nie jemand gesagt, in all den Jahren nicht. Eigentlich gab es immer nur zwei mögliche Reaktionen: Mitleid oder Schuldzuweisung. Aber es hat definitiv nie jemand behauptet, ich sei ein vorbildlicher Bruder gewesen. Verunsichert stehe ich auf.
»Ich geh mal rüber in mein Zimmer«, sage ich. »Wenn noch irgendwas sein sollte, kannst du ja klopfen. Ist gleich nebenan.«
Anoki schnürt sich die Stiefel auf und nickt. »Alles klar. Schlaf gut.«
»Ja – du auch«, sage ich und gehe rüber. Ich bin nicht müde, ziehe mich aber trotzdem aus und lege mich aufs Bett, wo ich endlos grüble. Hauptsächlich über Anokis ungewöhnliche Sicht der Dinge.
Es kommt mir so vor, als hätte Benjamins Tod ihn nicht übermäßig betroffen gemacht. Er fand es viel interessanter, was für einen korrekten älteren Bruder er hatte. Damit hat er – auf einer anderen Ebene – so etwas gesagt wie: Na gut, er ist tot, aber er hatte doch ein endgeiles Leben, oder? Das ist irgendwie – tröstlich. Wollte er sich bei mir einschleimen? Aber dazu war er mir gegenüber vorher viel zu gleichgültig. Er scheint keinen Wert darauf zu legen, sich in ein vorteilhaftes Licht zu rücken. Vielleicht liegt es daran, dass Anoki genau im gleichen Alter ist wie Benni damals, er kann sich also gut in ihn reinversetzen. Sicher wünscht er sich auch manchmal einen großen Bruder, der ihn auf Partys mitnimmt, der ihm Geheimnisse anvertraut, die die Eltern nicht erfahren dürfen, der ihn über das beunruhigende Eigenleben seines Schniepels aufklärt und mit ihm zum Angeln an den See fährt.
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