Herzbesetzer (German Edition)
kaufen er eigentlich nicht genug Geld hat. Aber ich muss ihn kein einziges Mal von einer Polizeiwache abholen, und er ist immer pünktlich zu Hause, meistens fast gleichzeitig mit mir.
»Hast du hier schon Leute kennengelernt?«, will ich wissen, während wir gemeinsam bei Aldi einen Einkaufswagen vollschaufeln.
Anoki guckt mich erstaunt an. »Nee – wieso?«
Ich bleibe vor dem Regal mit den Süßigkeiten stehen. »Ja, was machst du denn den ganzen Tag?«
Anoki zuckt die Schultern. »Ich lauf so rum. Guck mir die Stadt an. Nichts Besonderes.«
»Alleine?«, frage ich ungläubig. Ein Vierzehnjähriger, der ohne Begleitung durch die Stadt tigert, Tag für Tag – das kommt mir komisch vor.
Aber Anoki sagt mit großen Augen: »Na klar, wieso denn nicht?«
Judith macht sich darum keine Gedanken. »Er ist ein Einzelgänger«, sagt sie, »das ist schon in Ordnung. Ich glaube, er braucht niemanden.« Nach einer kleinen Pause fügt sie nicht ohne Zynismus hinzu: »Außer dich, natürlich.«
Ich gebe mir Mühe, meine Befriedigung nicht zu zeigen. »Aber er klaut«, sage ich stattdessen.
Judith nickt mit bedenklicher Miene. »Ja – das stimmt. Darüber musst du mit ihm reden.«
Wieso eigentlich immer ich? »Könntest du nicht mal …?«, wage ich zu fragen, aber da präsentiert mir Judith gehässig die Kehrseite der Medaille, die sie mir soeben umgehängt hat: »Ich? Mach keine Witze. Auf mich hört er ungefähr so viel wie auf einen Fernsehprediger.«
So ganz stimmt das nicht. Anoki hat Judith akzeptiert, und zwar nicht nur als Putzfrau und Köchin. Ab und zu lässt er sich von ihr sogar was sagen. Na ja, meistens dann, wenn es ihm nicht so wichtig ist. Oder wenn er sowieso gerade den Fernseher ausmachen wollte. Oder wenn er dafür eine Gegenleistung aushandeln kann. Oder wenn ich ihn aufmerksam beobachte und bereits diese drohende Miene aufgesetzt habe. Aber immerhin.
Ich rede also mit ihm. »Du klaust«, sage ich, als er eine eingeschweißte CD aus seinem Rucksack holt und fluchend an der Plastikfolie herumknibbelt. Anoki wirft mir nur einen winzigen Blick zu, dann fummelt er weiter und tut so, als hätte er mich nicht gehört. »Ich will nicht, dass du klaust«, fahre ich fort. »Wenn du was haben willst, kannst du es dir kaufen. Und wenn dein Geld nicht reicht, kannst du es eben nicht haben.«
Diesmal ruht Anokis Blick etwas länger auf mir – spöttisch und mitleidig. Er hält mich für einen weltfremden Spinner. Meine Argumentation findet er bestenfalls putzig und würdigt sie keiner Antwort. Stattdessen verschwindet er mit einem unterdrückten wüsten Fluch in der Küche, wo er der CD-Folie mit einem Messer zu Leibe rückt.
Ich gehe ihm hinterher. »Oder du kriegst es von mir«, füge ich rückgratlos hinzu.
Jetzt schenkt Anoki mir ein Lächeln, das mich fast zu Boden schickt. »Das wär ja das Allerletzte«, meint er, »wenn ich dich ausnutzen würde. Würd ich nie machen, echt.«
Ich bin von seinem Lächeln noch zu betäubt, um eine passende Antwort zu geben. »Bitte lass das mit dem Klauen«, hauche ich nur kraftlos.
»Okay«, sagt Anoki so beiläufig, als hätte ich ihn gebeten, mich von seinem Cheeseburger abbeißen zu lassen. Am nächsten Abend ziert ein nagelneuer Nietengürtel mit Ketten seine schmalen Hüften.
Ich versuche, ihn einzuspannen, damit er nicht so viel freie Zeit hat. Ich lasse ihn Einkäufe erledigen, schicke ihn seinen Kinderausweis abholen, den wir für die Reise nach Italien beantragen mussten, und trage ihm auf, den Akku meines Laptops zur Reparatur zu bringen. Aber das reicht nicht aus, um ihn den ganzen Tag zu beschäftigen, und meine Besorgnis bleibt. Eines Abends versuche ich, mit Una über den ohrenbetäubenden Lärm von Anokis geklauter Itchy-Poopzkid-CD hinweg Phase 10 zu spielen, als Judith ins Wohnzimmer stürmt und den CD-Player ausschaltet. Die plötzliche Stille ist noch viel erschreckender als das Punkgeschrei vorher, aber am erschreckendsten ist die Wut auf Judiths Gesicht.
»Wo ist der Hundert-Euro-Schein, den ich heute Morgen noch in meinem Portemonnaie hatte?«, fragt sie.
Anoki, der auf dem Teppich gelegen hat, setzt sich aufrecht hin. Dann starren wir Judith alle drei regungslos an. Sie starrt zurück – in Anokis Richtung.
»Ausgegeben hab ich ihn jedenfalls nicht«, erklärt sie schneidend. »Vielleicht hast du ja eine Idee?«
Anoki guckt zu mir rüber. Ich erwidere seinen Blick mit Entsetzen. Er wird doch wohl nicht …? Dann sehe ich genauer
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