Herzbesetzer (German Edition)
interessiert.
»Vier Zimmer, Balkon, vierundneunzig Quadratmeter, zweite Etage«, erwidert Judith professionell, während sie den Backofen ausschaltet, die Tür öffnet und den Kuchen herausnimmt. Sofort entfaltet sich ein herrlicher Duft in der Küche.
»Könnten wir nicht erst …«, fange ich an, aber Judith unterbricht mich unerbittlich: »Auf keinen Fall. Der muss erst abkühlen, und außerdem sind wir schon spät dran. Los, zieht euch die Schuhe an.«
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Nach Jahren beschaulichen Single-Daseins, in denen ich neben der Arbeit nichts weiter zu tun hatte, als meinen Trieben zu folgen und alle paar Wochen meinen Eltern den reumütigen Sohn vorzuführen, sind meine Tage jetzt zu kurz für all die Anforderungen, die an mich gestellt werden (und von denen nur noch ein Bruchteil mit meinen Trieben zu tun hat). Es gibt keine kuscheligen Fernsehabende auf Judiths Couch – nur das Hetzen von einer leer stehenden Wohnung zur nächsten, das Besorgen von dringend notwendigen Kleinigkeiten für den bevorstehenden Urlaub, Arzttermine, Hausputz, Tisch decken, Tisch abräumen, Gespräche mit dem Jugendamt, das immer noch keine endgültige Entscheidung über Anokis Zukunft getroffen hat, und wahre Einkaufsorgien, um die vierköpfige Familie mit Lebensmitteln zu versorgen. Ich würde so gerne mal von der Arbeit nach Hause kommen, mit einem opulenten Dreigangmenü empfangen werden, anschließend irgendeinen verdauungsfördernden Schmalz im Fernsehen anschauen, dabei abwechselnd Judith und (heimlich) Anoki kraulen und schließlich früh ins Bett gehen, um Kraft zu tanken für den nächsten Arbeitstag. Aber solche Tage, wie ich sie mir immer als Lohn für eine feste Beziehung vorgestellt hatte, gibt es gar nicht. Und selbst im Bett darf ich nicht einfach nur schlafen.
Aber ich sollte mich nicht beklagen. Wieder und wieder rufe ich mir ins Gedächtnis, dass ich es so gewollt habe. Meistens bin ich nicht ehrlich genug zu mir selbst, um mich darauf hinzuweisen, dass ich die Verlobung nicht zuletzt arrangiert habe, um beim Jugendamt als ernst zu nehmender Kandidat für Anokis Pflegschaft zu gelten. Und selbst wenn, bleibt immer noch die Frage, ob ich das aus triebgesteuertem Eigeninteresse oder für mein verlorenes, schutzbedürftiges Heimkind getan habe. In aller Regel sage ich mir einfach, dass ich aus Liebe zu Judith gehandelt habe und weil ich zutiefst überzeugt bin von den Segnungen einer eheähnlichen Gemeinschaft. Ich nehme an, die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen. Ich muss mich eben umgewöhnen. Das Alleinleben macht egoistisch und rücksichtslos, und ich muss jetzt auf etwas schmerzhafte Weise lernen, wieder ein soziales Wesen zu werden, was ja nicht zu viel verlangt ist.
Ich glaube, Anoki steht unter Schock, seit meine Mutter zu seiner Theateraufführung gekommen ist und ihn dann am nächsten Tag so attackiert hat. Irgendwas an ihm ist anders. Er wirkt … zerbrochen. Als wäre sein Widerstand gestorben. Nicht mal bei seinem ersten Wochenende in unserem Elternhaus war er so gleichgültig, so bedürfnislos, so fügsam und erschreckend abgeklärt wie jetzt. Ich gewöhne mir an, ihn häufig zu fragen: »Geht’s dir gut?« oder »Alles okay mit dir?«, weil ich das nicht mehr zweifelsfrei erkennen kann.
Er guckt mich meistens milde überrascht an, zuckt die Achseln und nickt oder sagt: »Klar«, aber einmal antwortet er: »Das hast du mich heute schon vier Mal gefragt. Das letzte Mal vor zehn Minuten«, woraufhin ich mir Mühe gebe, künftig die Klappe zu halten. Ich werfe ihm nur noch heimliche besorgte Seitenblicke zu und steigere mich in einen stummen Hass auf meine Mutter hinein.
Judith ist nach wie vor sehr liebevoll und hat für alles Mögliche Verständnis, und ich bewundere die Energie, mit der sie ihren plötzlich erweiterten Haushalt organisiert. Allerdings hat sie die Zügel fest in der Hand und macht unmissverständlich klar, dass das alles hier nur funktioniert, wenn jeder seinen Beitrag leistet. Es ist ungewohnt für mich, Aufgaben zugeteilt und Aufträge erteilt zu bekommen, besonders von einer Frau, die bisher immer nur warm, weich und großzügig war. Ich erschrecke jedes Mal, wenn Judith, äußerlich unverändert, auf einmal zum Oberfeldmarschall mutiert und mit unnachgiebiger Härte Dinge sagt wie »Auf dem Rückweg von der Arbeit musst du heute bei Aldi vorbeifahren, hier ist die Liste« oder »Stell sofort den Kuchen wieder hin! Der ist für den Sommerbasar in Unas
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