Herzbesetzer (German Edition)
kann ich noch nicht mal revoltieren, weil ich das letzlich auch will. Da Anoki sich nicht mehr in Neuruppin aufhält, erklärt uns Frau Paschmann, mit der ich regelmäßig telefoniere, dass wir uns bei der zuständigen Stelle in Berlin melden müssen. Sie gibt uns die Telefonnummer einer Frau Dakow, mit der ich einen Termin vereinbare. Zwei Tage später besuche ich sie mit Anoki in ihrem Büro.
Frau Dakow ist höchstens dreißig, hat kurze, schwarz gefärbte Haare, eine gepiercte Unterlippe und trägt die gleichen Turnschuhe wie Anoki. Mit anderen Worten, sie sieht aus, als sei sie selbst noch nicht allzu lange aus dem Heim raus. Ich bin sofort von ihr hingerissen, und wenn ich in dieser Hinsicht nicht bereits vollkommen überfordert wäre, würde ich mich in sie verlieben. Schon weil sie Anoki so träge angrinst und mit ihm redet, als hätten sie nach dem letzten Bingedrinking eine wunderbare Zeit auf der Intensivstation miteinander verbracht. Sie lässt sich unsere Situation schildern, wobei sie wesentlich mehr Wert auf Anokis Sichtweise legt als auf meine (obwohl die beiden sich praktisch nicht unterscheiden).
Zum Schluss fragt sie ihn: »Und warum willst du jetzt unbedingt nach Berlin?«
Worauf Anoki mit fester Stimme erwidert: »Ich will bei Juli sein.«
Anschließend fasst sie mich ins Auge. »Und Sie? Warum wollen Sie das?«
Darauf gibt es mehr als eine Antwort, und ich überlege kurz, welche am besten passt. »Ich will, dass Anoki endlich kriegt, was er verdient.«
Wir fangen alle drei an zu grinsen, weil uns die Zweideutigkeit dieser Aussage gleichzeitig bewusst wird. Sie grinst wirklich nett, die Frau Dakow. »Ich meine: ein Zuhause, Zuneigung, eine vernünftige Schulbildung und so weiter«, füge ich hinzu, obwohl sie zweifellos schon kapiert hat, dass ich nicht »eine ordentliche Tracht Prügel« gemeint habe. Dann rutscht mir noch heraus: »Außerdem hab ich ihn total lieb«, aber während ein solcher Satz bei Frau Paschmann vermutlich für bedenkliches Kopfschütteln gesorgt hätte, wirkt Frau Dakow eher beeindruckt. Sie sieht mich an, dann Anoki, dann wieder mich und sagt: »Das merkt man.«
Ich glaube, sie meint das anerkennend statt zynisch. Noch ehe ich sie fragen kann, was sie heute Abend vorhat, sind wir schon wieder raus aus ihrem Büro, allerdings mit dem Versprechen, dass sie uns in zwei Wochen zu Hause besuchen wird.
Ich könnte mir vorstellen, dass Frau Dakow – anders als ihre Neuruppiner Amtskollegin – auch einverstanden wäre, wenn Anoki ohne Alibifamilie bei mir lebt, einfach nur er und ich, so wie ich es mir heimlich erträume. Aber sicher bin ich nicht, und ich hab auch keine Ahnung, wer darüber letztlich entscheidet. Und außerdem stelle ich fest, dass dieser Gedanke Judith gegenüber so bodenlos gemein ist, dass ich unterwegs anhalte, in ein Blumengeschäft springe und ihr einen sündhaft teuren expressionistischen Strauß kaufe.
Anoki hat im Auto gewartet, und als ich das florale Kunstobjekt vorsichtig auf den Rücksitz bette, sagt er: »Du hast doch noch gar nichts gemacht mit der Dakow.«
»Wie bitte?«, frage ich nervös. »Was soll das denn heißen?«
Anoki stellt seine dreckigen Turnschuhe auf das Armaturenbrett, was zu verbieten ich schon vor langer Zeit aufgegeben habe. »Ich hab gedacht, so ’ne Blumen schenkt man erst, wenn man richtig fremdgevögelt hat. Und nicht wenn man bloß mal dran gedacht hat.«
Ich würde ja gerne alles abstreiten, aber das hat keinen Sinn. »Na ja, die sieht ganz … nett aus«, lautet meine lahme Entschuldigung.
»Joo. Nicht übel«, bestätigt Anoki ohne großes Engagement. »Aber ich hab nicht … ich würde nicht … also, was denkst du überhaupt von mir?«, verhaspele ich mich.
Anoki lächelt nur überlegen in sich hinein, was mich noch mehr aufregt.
Wenigstens freut Judith sich uneingeschränkt über die Blumen und lässt keine dummen Bemerkungen fallen. Sie freut sich auch, dass unser Kontakt mit dem Berliner Jugendamt so positiv verlaufen ist. So ist Judith eben: wohlwollend, fürsorglich, herzlich. Während sie die Blumen in eine Vase stellt, ertappe ich mich dabei, wie ich an den Fingernägeln kaue – etwas, das ich mir bereits vor zwölf Jahren abgewöhnt hatte.
»Das sieht ja alles ganz gut aus«, fasst Judith zusammen, als sie mit der Vase zurück ins Wohnzimmer kommt. »Jetzt fehlt uns nur noch eine vernünftige Wohnung.« Ja, aber vor dem Urlaub werden wir garantiert keine mehr finden (dafür werde ich schon
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