Herzbesetzer (German Edition)
sorgen), und damit habe ich wieder ein bisschen Zeit gewonnen, ehe ich mich endgültig entscheiden muss.
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Die Stimmung ist gereizt. Una knallt Türen, weil sie das Oberteil ihres nagelneuen, extra für den Urlaub gekauften Bikinis nicht finden kann.
Judith sieht erschöpft aus und fährt mich ungewohnt heftig an: »Du hast ja immer noch nicht den Müll runtergebracht!«
Anoki raucht auf dem Balkon seine dritte Zigarette in einer Stunde. Und ich habe Kopfschmerzen und kriege meinen Koffer nicht zu. Aber wahrscheinlich ist das normal, wenn mehrere Personen gleichzeitig versuchen, sich auf eine Reise vorzubereiten. Jedenfalls war es früher bei uns zu Hause genauso. Einmal hat Benni vor lauter Stress so geheult, dass er nicht mehr zu beruhigen war, und am Ende habe ich seinen Koffer gepackt und all seine Sachen ins Auto getragen, und als wir dann an unserem Ziel angekommen waren – ich glaube, es war Kroatien –, hat er einen ganzen Tag lang nicht mit mir geredet, weil ich seine Tauchermaske vergessen hatte.
Dabei haben wir uns einen riesengroßen Zeitpuffer eingebaut, weil Una noch nie geflogen ist und vor dem Start unbedingt ein ausführliches Flughafen-Sightseeing machen will. Unser Flug geht erst um zehn nach drei, jetzt ist es halb elf – also kein Grund zur Panik. Ich bin trotzdem erleichtert, als alle im Auto sitzen.
»Seid ihr sicher, dass ihr alles habt?«, frage ich, während ich den Zündschlüssel ins Schloss stecke.
»Tickets? Ausweise? Hotelvoucher? Saubere Unterhosen?«
Zustimmendes Gemurmel von allen Plätzen. Ich lenke den Wagen in Richtung Autobahn und grüble darüber nach, wie ich diese Reise möglichst unbeschadet überstehen kann. Anoki weiß inzwischen, dass er und Una sich ein Zimmer teilen müssen – er hat es vorgestern mitgekriegt, als er sich die Reiseunterlagen angeguckt hat, und ich denke nur ungern daran zurück, wie er von den Papieren hoch- und mir direkt in die Augen schaute und wie viel Wut, Enttäuschung und Trotz ich in seinem Blick erkennen konnte. Allerdings hat er nur sehr wenig gesagt. Überhaupt redet er nach wie vor kaum, wenn wir bei Judith sind. Er schweigt vor sich hin, quarzt auf dem Balkon, hört Musik über Kopfhörer und schließt sich endlos auf dem Klo ein. Oder er ist unterwegs. Ich weiß nicht, was in ihm vorgeht; ich komme im Moment nicht an ihn ran.
Immer wieder sehe ich in den Rückspiegel. Anoki wirkt nervöser als sonst. Wahrscheinlich hat er Angst vor seiner ersten Flugreise, das ist ja ganz normal, aber er würde so etwas natürlich niemals zugeben. Ängste aller Art macht Mister Obercool mit sich selber aus – oder er vertraut sie mir an, wenn wir allein sind. Was wir seit einigen Tagen nicht mehr waren. Und wahrscheinlich auch die nächsten zwei Wochen nicht sein werden. Ich krampfe meine Finger um das Lenkrad und kneife kurz die Augen zu, weil die Kopfschmerzen heftiger werden.
»Du musst da raus!«, ruft Judith und deutet auf eine Autobahnausfahrt. Verdammt, ja, die hätte ich beinahe verpasst. Ich reiße das Steuer nach rechts und betätige sogar den Blinker, allerdings erst, nachdem ich die Spur bereits gewechselt und den hinter mir fahrenden Renault in einige Bedrängnis gebracht habe. Judith schnalzt ärgerlich mit der Zunge.
»Schläfst du oder was?« In Anbetracht meiner brudermordbelasteten Vorgeschichte ist das eine ziemlich unsensible Frage, vor allem aus dem Mund meiner sonst so einfühlsamen Verlobten. Das bemerkt sie nun auch, ohne dass ich etwas gesagt hätte, und legt mir die Hand auf den Arm.
»Entschuldige. Ich glaub, ich bin ein bisschen gereizt.«
Ich gebe keine Antwort, sondern bemühe mich, uns mit größtmöglicher Konzentration nach Schönefeld zu befördern.
Kurz bevor ich den Dauerparkplatz ansteuere, spricht Anoki seine ersten Worte seit der Abfahrt: »Scheiße! O verdammte Scheiße!« Er wühlt hektisch in seinem Rucksack.
Mir hüpft fast das Herz in die Kehle. »Was ist los?«
Anoki guckt kläglich hoch. »Ich hab meinen Ausweis vergessen!«
Judith dreht sich zu ihm um. »Was? Das ist doch nicht dein Ernst!« Sie holt tief Luft und setzt an zu einer Kette von Vorwürfen.
Währenddessen steuere ich den Wagen an den Straßenrand, schalte den Motor ab und unterbreche ihre Tirade mit den Worten: »So, jetzt mal ganz ruhig. Wo hast du deinen Ausweis hingetan?«
»In die schwarze Umhängetasche. Ins Vorderfach. Weil ich die erst mitnehmen wollte. Aber da ging nicht alles rein, und deshalb hab ich dann
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