Herzbesetzer (German Edition)
Und die wollten nicht, dass ich das mitkriege, wie die langsam verrecken.«
Ich unterdrücke ein gequältes Stöhnen. Eine neue Warum-ich-ausgesetzt-wurde-Theorie! Ich hatte so sehr gehofft, dass das für Anoki kein Thema mehr wäre. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass er diese ganze Sache vergisst. Offenbar wünsche ich vergebens. Als Erstes nehme ich ihn ganz fest in den Arm, dann sage ich vorsichtig: »Du hast deine Mutter doch neulich noch gesehen. Lebendig.«
»Aber meinen Vater nicht«, widerspricht er sofort. »Vielleicht hatte der ’ne Krankheit. Meine Eltern waren bestimmt nicht krankenversichert. Die hätten echt den Löffel abgegeben, wenn die was Schlimmes gekriegt hätten. Und das ist ja dann ziemlich beschissen, wenn man das als Kind so mitkriegt.«
Nicht so beschissen, wie einfach an einer Raststätte zurückgelassen zu werden, denke ich, aber ich will seine verzweifelte Hypothese nicht demontieren.
»Vielleicht haben die gedacht, da wird schon einer kommen und mich mitnehmen, und bei dem hab ich’s dann vielleicht besser«, erläutert Anoki. Das hat er sich wirklich fantasievoll zurechtgelegt, und es ist so typisch für ihn, an das Gute zu glauben – und mir kommen gleich die Tränen. Ich schaffe es nicht, darauf zu antworten.
»Ja, guck mal, hat zwar ’n bisschen gedauert, aber hat ja echt geklappt«, sagt er dann, womit er meine Bewegtheit unwiderruflich auf die Spitze treibt. »Jetzt bin ich ja bei dir.« Er drückt sich behaglich noch ein bisschen fester an mich. Minuten später murmelt er schläfrig: »Ich hol dich morgen von der Arbeit ab. Damit wir den CD-Player kaufen können.«
117
Einen Ausweg aus unserem Dilemma habe ich noch nicht gefunden, aber dafür ein neues Feindbild: Immobilienmakler. Für mich sind das geldgeile Aasgeier, die jedes verfügbare dubiose Verkaufsseminar mit Erfolg absolviert haben und selbst die schimmeligste Bruchbude noch als eine Art alternatives Schloss Bellevue anpreisen.
»Tut mir leid, aber eine Wohnung über zwei Etagen kommt für uns nicht in Frage«, erkläre ich. »Schon gar nicht mit so einer Wendeltreppe. Das ist zu gefährlich.«
»Aber Maisonettewohnungen sind total trendy! Die sind derzeit die absolute Nummer eins auf dem Immobilienmarkt!«, belehrt mich der Makler. »Und Ihre Kinder sind ja auch groß genug, um nicht mehr die Treppe runterzufallen«, fügt er hinzu, womit er mich erstens zum ahnungslosen Provinzler und zweitens zum Gluckenvater abqualifiziert.
»Das schon«, sage ich, »aber ich bin ja nun nicht mehr der Jüngste … Mit der künstlichen Hüfte ist das Treppensteigen ziemlich mühsam.«
Der Makler glotzt mich entgeistert an, und Anoki gluckst anerkennend. Wir tauschen einen verschwörerischen kurzen Blick und verlassen auch dieses Objekt ohne Ergebnis.
Unten auf der Straße sagt Judith ärgerlich: »Was sollte das denn jetzt wieder? Ich fand die Wohnung toll!«
Ich lege ihr den Arm um die Schultern und führe sie sanft zum Auto. »Tut mir leid. Der Typ hat mich so genervt … Ich konnte einfach nicht anders.«
Später, zu Hause, als Una bereits im Bett ist und Anoki auf dem Balkon raucht, sagt Judith: »So langsam krieg ich das Gefühl, du willst überhaupt keine Wohnung.«
Obwohl mir bewusst ist, dass wir gerade äußerst gefährliches Terrain betreten, kann ich es mir nicht verkneifen und erwidere spontan: »Ich hab doch eine!«
Wie nicht anders zu erwarten, geht Judith hoch. »Ja, klar! Und so soll es auch bleiben, was?«
Ja. Das wäre toll. »Nein, natürlich nicht«, heuchle ich. »Wie kommst du denn auf so was? Wir wollen doch zusammenziehen!« Und ich spule das übliche Programm ab: umarmen, küssen, einlullen. Aber zum ersten Mal wird mir bewusst, dass ich nicht mit dem Herzen dabei bin, sondern nur eine Show abziehe. Das Einzige, was mich über mein schlechtes Gewissen hinwegtröstet, ist, dass ich aus den Augenwinkeln Anoki in der geöffneten Balkontür stehen sehe und dass er so ein zauberhaftes, triumphierendes kleines Lächeln in den Mundwinkeln hat, während er uns beobachtet.
Natürlich ist das alles nur ein Aufschub. Ich meine, ich kann monatelang so weitermachen, jede Wohnung miesmachen, die Judith in unser Besichtigungsprogramm aufgenommen hat, und mich fünf Mal die Woche mit Immobilienhaien rumzanken. Aber unser Problem löst das nicht. Irgendwann wird das Jugendamt auf den Tisch hauen und uns unter Druck setzen, denn sie wollen geordnete Verhältnisse für Anoki, und dagegen
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