Herzbesetzer (German Edition)
Distanz und in der schützenden Hülle meiner Junggesellenwohnung, fällt mir auf, wie ich mich zusammenreißen musste: wenn das Bad morgens besetzt war, wenn ich zu endlosen Einkaufsorgien mitgeschleift wurde, wenn ich nach dem Abendessen Wohnungen besichtigen sollte, wenn Judith mir komische Blicke zuwarf, weil ich mir eine weitere Flasche Bier aus dem Kühlschrank holte, oder wenn ich mit vor Müdigkeit tränenden Augen die Tagesthemen bis zum Ende ansehen musste, obwohl ich mich verzweifelt nach meinem Bett sehnte. Ich habe es mir nicht eingestanden, aber es war eine Kette von Kompromissen. Ich dachte, das müsste so sein.
Auf einmal wird mir klar: muss es nicht. Mit Anoki habe ich mein Leben schon mehrfach tagelang geteilt, aber ob er mich nun bis zur äußersten Erschöpfung auf Inline-Skates durch Berlin jagt oder stundenlang unter meiner Dusche steht – es macht mir nichts aus. Was immer ich für ihn oder mit ihm tue, und mag es noch so mühsam oder nervig sein, tue ich absolut freiwillig. Ich könnte jederzeit abbrechen, ich könnte von vornherein ablehnen, ich könnte ihm alles verbieten – aber ich will es nicht. Selbst wenn er mich zweimal den Teufelsberg hinaufjagt, mit geklauten Spirituosen nach Hause kommt oder mein letztes Geld gegen Drogen tauscht, setzt das bei mir noch jede Menge Glückshormone frei. Und ich brauche ihn nicht zu fragen, um zu wissen, dass es ihm genauso geht. Mein Fehler war wahrscheinlich anzunehmen, dass das auch im Familienverbund funktionieren würde. Ein paar Atemzüge lang bin ich sauer auf Judith, weil sie meine Erwartungen nicht erfüllt hat, aber zum Glück begreife ich schnell, dass es nicht ihre Schuld ist. Im Gegenteil. Judith hat sich großartig verhalten, sie hat akzeptiert, dass Anoki sozusagen ein Teil von mir ist, sie hat sogar hingenommen, dass ich mich zu einem gewissen Prozentsatz nur seinetwegen so eng mit ihr verbandelt habe, und sie behandelt ihn die meiste Zeit fair und anständig. Judith kann wirklich nichts dafür. Es ist einfach – nicht das Richtige. Es fühlt sich unecht und gezwungen an, mit ihr, Una und Anoki unter einem Dach zu leben. Es ist nicht das, was ich will, es ist nicht das, was Anoki will, und möglicherweise ist es nicht mal das, was Judith will (obwohl ich das bezweifle).
»Tja, so ganz prickelnd war das nicht«, führe ich unser Gespräch fort.
»Dann waren wir wohl beide nicht gerade, na ja, überglücklich. Oder?« Anoki zuckt die Schultern und sieht mich weiterhin achtsam an.
»Und was sollen wir jetzt machen?«, frage ich leise.
Er gibt keine Antwort. Ich begreife, dass die Lösung des Problems meine Aufgabe ist. Strolchi wartet auf Herrchens Kommando, sonst nichts. Seufzend wende ich den Blick von seinen großen Hundeaugen ab und lasse den Kopf hängen. Da schmiegt er seinen warmen Körper an meinen, nimmt meine Hand und erklärt: »Wir kriegen das schon hin.«
Später, als wir uns schlafen gelegt haben, kuschelt Anoki sich mit der gewohnten unschuldigen Zutraulichkeit an mich – ach, wie hat mir das die letzten Tage gefehlt! Auch wenn es die pure Folter ist, so doch die süßeste, die ich mir vorstellen kann.
»Wann warst du eigentlich das letzte Mal beim Arzt?«, fragt er.
Diese Frage ist so überraschend wie ein Eimer kaltes Wasser. Keine Ahnung, worauf er hinauswill, aber ich bemühe mich um eine aufrichtige Antwort. »Hmmm, warte mal … Ach ja! Du weißt doch! In Neuruppin, als ich die Bronchitis hatte!«
»Doch nicht so«, erwidert Anoki ungeduldig. »Ich mein so richtig! So mit Gesundheitscheck oder wie das heißt!«
Ich spiele mit einer seiner verfilzten Strähnen und sage verblüfft: »Hä? So was hab ich noch nie gemacht.«
Es ist fast vollkommen dunkel in meiner Wohnung, deshalb kann ich Anokis Mimik nicht erkennen, aber seine Stimme klingt verärgert, als er antwortet: »Aber das ist doch wichtig ab ’nem gewissen Alter! Wer weiß, was du alles für Krankheiten hast, und die können sich in aller Ruhe in dir fettmachen!«
»Ich bin vierundzwanzig«, sage ich pikiert. »Falls du auf Darmspiegelungen oder so was rauswillst, die werden erst ab fünfundfünfzig empfohlen, soviel ich weiß.« Das finde ich jetzt ein bisschen beleidigend, echt.
Aber dann lässt Anoki die Katze aus dem Sack. »Du bist genauso alt wie meine Mutter damals«, sagt er. Mit »damals« meint er zweifellos den Tag, als er vergessen wurde. »Vielleicht hatten meine Eltern ja auch ’ne ganz schlimme Krankheit. Oder einer von beiden.
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