Herzen aus Gold: Roman (German Edition)
praktischer, bei ihnen zu leben – es gab ohnehin niemanden, der zu Hause auf sie gewartet hätte. Jack allerdings wünschte sich, se ine Mutter hätte dem nicht zugestimmt.
»Hallo, Mrs. Shand«, sagte er munter und ignorierte ihren unverändert missbilligenden Blick. »Gibt es noch Suppe?«
»Bedienen Sie sich. Ich habe im Salon für Sie gedeckt«, sagte sie mit energischer Stimme. Dann kniff sie sofort wieder die Lippen zusammen.
»Wo ist …«
»Mr. Bryant senior ist nicht da«, sagte sie. Offensichtlich s cheute sie sich nicht, Jack einfach ins Wort zu fallen. »Mrs. Bryant nimmt soeben zusammen mit Mrs. Hay, die gerade ihr erstes Trauerjahr für ihren Sohn hinter sich hat, ein Nachtmahl im Speisezimmer ein.«
Jack runzelte die Stirn.
»Er ist in Ypern gefallen.«
Jack wusste, dass Mrs. Shands Sohn in Ypern ums Leben g ekommen war, als die Deutschen zum ersten Mal Giftgas gegen die Alliierten eingesetzt hatten. Sie schien der Meinung zu sein, jeder noch lebende Sohn Cornwalls sollte sich zutiefst dafür schämen, dass er noch lebte, wo doch der junge Tommy Shand für sein Vaterland gefallen war.
»Dann sollte ich die Damen lieber nicht stören, Mrs. Shand.«
»Aber was ist mit Ihrer Suppe?«
»Eigentlich habe ich gar keinen Hunger«, log er. »Ich bin müde und gehe am besten gleich zu Bett.«
»Gute Nacht.«
Ohne ein Wort stieg Jack die Treppe hinauf. Wenigstens blieb ihm die Begegnung mit seinem strengen Vater erspart. Auf dem Treppenabsatz vor dem Zimmer seiner Eltern blieb er kurz stehen. Er fragte sich, warum sein Vater nicht in das angrenzende Zimmer gezogen war, so wie dies bei anderen wohlhabenden Gentlemen üblich war. Das Zimmer mit seinen kunstvollen, dunklen viktorianischen Möbeln wurde trotzdem von allen nur »Vaters Zimmer« genannt.
Jack holte tief Luft und trat leise über die Schwelle des Raumes, welchen er als den seiner Mutter betrachtete. Er achtete darauf, nicht auf die eine Bodendiele zu treten, die immer so laut knarzte. Jetzt stand er in einem weiblichen Heiligtum voller Chintz, Anmut und sanften Farben. Dass die Einrichtung das genaue Gegenteil von Charles Bryants Geschmack war, schien ihn nicht zu stören. Er behandelte seine Frau immer so zart und liebevoll wie einen kleinen Vogel.
In Momenten des Zorns, aber auch in Momenten der Verzweiflung fühlte Jack sich stets durch das Wissen getröstet, dass seine Eltern einander in tiefer Liebe zugetan waren und dass er das Produkt dieser Liebe war. Charles gab seiner Frau stets das, was sie sich wünschte, dennoch war Elizabeth Bryant weder ein verwöhnter noch ein anspruchsvoller Mensch. Jack war sich jedoch auch bewusst, dass sein Vater ihr den größten Wunsch – den nach einem wahrhaft glücklichen Zuhause – nicht erfüllen konnte, und das lag einzig und allein daran, dass er, Jack, unter diesem Dach lebte.
Jack seufzte. Er hasste sich dafür, ein Fluch für das Leben anderer zu sein. Auf Zehenspitzen durch das wunderschön möblierte edwardianische Zimmer schleichend, näherte er sich de m Frisiertisch seiner Mutter, der von einer prächtigen Tiffan ylampe erhellt wurde. Die Lampe war eine Neuerwerbung, die von Elizabeths modernem Geschmack zeugte. Während einige der noch prächtigeren Häuser bereits seit ein paar Jahren über Elektrizität verfügten, war das Zuhause der Bryants eines der ersten in dieser Gegend, das elektrifiziert worden war. Jack konnte es seiner Mutter nicht verübeln, dass sie diesen neuen Luxus auch für sich nutzen wollte.
Jack wusste genau, wonach er suchte. Keine Perlen, wie ihm Rally nahegelegt hatte, sondern die wunderschöne, mit Diamanten verzierte Uhr, die sein Vater Elizabeth geschenkt hatte, noch bevor Jack auf die Welt gekommen war. Sie war für ihren Geschmack ein wenig zu protzig, hatte er sie einmal sagen hören, aber auf Jack hatte das Platingehäuse mit seinen winzigen funkelnden Diamanten stets eine magische Anziehungskraft ausgeübt. Die Vorstellung, dass man aus Edelsteinen, die einst im Bauch der Erde geruht hatten, etwas so Exquisites und Schönes herstellen konnte, faszinierte ihn, sprach ihn als einen Menschen an, der es liebte, nach Schätzen zu suchen, die weit unter der Erdoberfläche verborgen lagen.
Vorsichtig öffnete er den Deckel der gravierten silbernen Schmuckschatulle und ging dann die Stücke durch, bis er die Uhr fand. Seine Mutter würde sie wochenlang – möglicherweise sogar monatelang – nicht vermissen. Sie trug sie nur sehr selten. Jack war fest
Weitere Kostenlose Bücher