Herzen im Feuer
gefallen war und auf dem Boden lag. Er legte es auf den Stapel, doch dann wurde er plötzlich neugierig und suchte den Verschluß. Auf Daumendruck sprang das Medaillon auf und offenbarte zwei Gesich- ter. Sofort erkannte er Julians in Blau und Gold gehaltenes Porträt - aber das Gesicht neben ihm hatte Nicholas noch nie gesehen.
Seine Augen verengten sich, während er die edlen Züge jener Frau begutachtete, die ihn aus dem goldenen Medaillon anlächelte. Wider Willen fühlte er sich von ihr angezogen. Sie war jünger, als er angenom- men, und sah wesentlich besser aus, als er es sich vorgestellt hatte. Die Augen unter den sanft geschwungenen Brauen strahlten golden, und das leichte Lächeln auf ihren Lippen schien verführerische Zärtlichkeit zu versprechen.
»Mein Gott, was für eine Schönheit«, entfuhr es Nicholas atemlos. Armer Julian. Gegen eine solche Frau konnte er natürlich nicht an- kommen. Er hat recht, sie ist wild, sie wirkt, als könne niemand sie aufhalten. Nicholas fragte sich, welche Gedanken sich wohl hinter diesen unvergleichlichen Augen verbergen mochten. Fassungslos schüttelte er den Kopf und versuchte sich aus dem Bann dieses Antlit- zes zu befreien, denn er erinnerte sich daran, wie grausam diese Frau gehandelt hatte.
Doch immer noch nicht konnte er die Augen von dem Porträt abwenden. Plötzlich hatte er das Gefühl, sie könne seine Gedanken hören. »Wenn wir einander begegnen, werde ich dich lehren, was wahre Grausamkeit ist«, schwor er. »Und wir werden einander begeg- nen, Mara O'Flynn. Das verspreche ich dir!«
Ȇber die Berge
auf dem Mond,
durch das Tal, wo der Schatten wohnt, reite nur zu«,
der Finstere sprach,
»suchst du nach Eldorado.«
EDGAR ALLAN POE
Kapitel 1
Breitbeinig stemmte Mara O'Flynn sich gegen das Rollen und Schlin- gern des Schiffes, das die Woge erklomm, einen Augenblick auf ihrem Kamm verharrte, um dann abrupt auf der anderen Seite wieder in die schwarzblaue Tiefe zu stürzen. Der Wind fuhr mit eisigen Dolchen durch ihr Kleid, doch Mara genoß die kalte, nach Tang duftende, salzige Gischt auf ihren Wangen. Sie hob den Kopf und schaute zu den drei hohen Masten auf. Sie waren voll getakelt, und die Segel blähten sich im Wind.
Im Winter 1850 hatten sie in New York City die Segel gesetzt, einen Schneesturm hinter sich lassend, der die Stadt in ein weißes Tuch gehüllt hatte. Aber auch auf dem offenen Meer hatten sie mit Sturm- böen zu kämpfen gehabt, und Schneegestöber hatte das Deck schier unbegehbar gemacht, so daß die Passagiere, Landratten allesamt, meist unter Deck blieben und sich ihrer Seekrankheit hingaben. Die Seeleute behaupten, daß niemand die Launen des Meeres kennen kann. Und Mara mußte ihnen erstaunt recht geben, als sie eines Morgens, nach einer Woche schwerer Unwetter, erwachte und die See spiegelglatt war. Jetzt fiel ihr wieder das erste Segel ein, das sie am Horizont erblickt hatten, für Mara das erste Zeichen, daß sie nicht vollkommen verlassen auf hoher See trieben.
»Schiff ahoi!« hatte der Zweite Maat gerufen, als das fremde Gefährt sich ihnen näherte.
»Hallo!« war die Antwort gewesen.
»Wie heißt euer Schiff?«
»Wir sind die Brigg La Mouette aus Marseille und auf dem Weg nach Boston. Woher kommt ihr?«
»Wir sind der Klipper Windsong auf dem Weg von New York nach Kalifornien und fünfzehn Tage auf See.«
Das war vor vier Monaten gewesen. Jetzt blickte Mara über die Wellenberge hinweg auf jene kaum erkennbare, streckenweise in Ne- belschwaden gehüllte blasse Linie. Dort lag die kalifornische Küste. Und hier wollten sie ihr Glück machen? Dies war also das sagenhafte Land, dessen Ruf Abenteurer aus aller Welt anlockte? Auch auf diesem Schiff befanden sich Menschen aus aller Herren Länder, von denen Mara zum Teil noch nie gehört hatte. Unter Deck hockten elegant gekleidete Europäer, die sich auf französisch, italienisch oder englisch unterhielten, zwischen einfachen Arbeitern und Bauern aus Deutsch- land, Schweden, Portugal und Griechenland. Doch das Gewirr ver- schiedenster Sprachen war schon längst durch die universelle Sprache des Kartenspiels ersetzt worden. Mühevoll erarbeitete Ersparnisse wanderten von einer Hand in die andere, bis schließlich jeder auf die eine oder andere Weise verloren hatte.
Mara ließ ihre Hand aus dem Pelzmuff gleiten und zog sich den flatternden Mantelsaum enger um die Beine. Dann schnürte sie die Bänder ihrer grünen Samthaube fester und tastete sicherheitshalber
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