Herzenhören
erfolgreichen Anwalts, des guten und starken Vaters, der für seine Kinder da war, wenn sie ihn brauchten, wollte ich das befleckt sehen? Du sollst dir kein Bildnis machen. Als ob wir ohne leben könnten. Wie viel Wahrheit vertrage ich?
Was hat mich bis ans andere Ende der Welt getrieben? Nicht die Trauer, diese Phase ist vorüber. Vier Jahre sind eine lange Zeit. Ich habe getrauert, aber ich merkte bald, dass der banale Satz stimmt: Das Leben geht weiter. Auch ohne ihn. Meine Freunde behaupteten, ich sei über die Sache, wie sie es nannten, schnell hinweggekommen.
Es ist auch nicht die Sorge, die mich suchen lässt. Wenn ich ehrlich bin, glaube ich nicht, dass mein Vater noch am Leben ist, oder, sollte ich mich täuschen, dass er mich braucht oder ich etwas für ihn tun könnte.
Es ist die Ungewissheit, die mir keine Ruhe lässt. Die Frage, warum er verschollen ist und ob sein Verschwinden mir etwas über ihn verrät, das ich nicht weiß. Kannte ich ihn so gut, wie ich glaube, oder war unser Verhältnis, unsere Nähe, eine Illusion? Diese Zweifel sind schlimmer als die Angst vor der Wahrheit. Sie werfen einen Schatten auf meine Kindheit, auf meine Vergangenheit, und ich beginne, meinen Erinnerungen zu misstrauen. Und sie sind das Einzige, was mir geblieben ist. Wer war der Mann, der mich großgezogen hat? Mit wem habe ich über zwanzig Jahre meines Lebens zusammengelebt? Wer war mein Vater wirklich?
3
D ie letzte Erinnerung an ihn liegt vier Jahre zurück.
Es war der Morgen nach meinem Abschlussexamen. Ich schlief bei meinen Eltern im Haus meiner Kindheit in der 64. Straße auf der Ostseite Manhattans. Sie hatten mir ein Bett im ehemaligen Kinderzimmer bereitet, das nun als Gästezimmer diente. Wir hatten am Abend zuvor mein Examen gefeiert. Ich hätte auch zu mir gehen können, meine Wohnung auf der 2. Avenue liegt keine zehn Minuten vom Haus meiner Eltern entfernt, aber es war spät geworden, nach Mitternacht, und ich spürte den Champagner und den Rotwein. Wir hatten einen besonders schönen Abend gehabt, mein Bruder war aus San Francisco gekommen, mein Vater, der niemals Alkohol trank und Feste verabscheute, war ausgelassen wie selten, und ich hatte Sehnsucht nach meiner Familie bekommen, nach meinem alten Zimmer, den Gerüchen und Geräuschen meiner Kindheit. Einmal noch geweckt werden vom Geklapper des Geschirrs, wenn mein Vater, wie jeden Morgen kurz nach sechs, die Spülmaschine ausräumt und den Tisch deckt. Einmal noch den Geruch vom frischen Kaffee und den aufgebackenen Zimtschnecken in der Nase spüren, die wir als Kinder so gerne aßen. Im Halbschlaf hören, wie er die Haustür öffnet, hinaustritt, die New York Times aufhebt und wieder hereinkommt, horchen, wie die schwere alte Holztür ins Schloss fällt und die dicke Zeitung mit einem schmatzenden Geräusch auf dem Küchentisch landet. Meine Universitätsjahre waren vorbei, etwas ging zu Ende, unwiderruflich. Ich wollte es festhalten, und sei es nur für eine Nacht und einen Morgen. Den Tag beginnen im Schutz der Rituale meiner Kindheit. Die Geborgenheit genießen. Einmal noch.
Als hätte ich etwas geahnt.
Mein Vater weckte mich früh. Durch die hellen Holzjalousien fiel dämmriges Licht, es muss kurz vor Sonnenaufgang gewesen sein. Er stand vor meinem Bett, trug seinen altmodischen grauen Mantel und einen braunen Borsalino. Als kleines Mädchen habe ich ihn so ins Büro gehen sehen. Damals stand ich jeden Morgen am Fenster, manchmal weinend, weil ich nicht wollte, dass er fortging, und winkte ihm hinterher. Selbst später, als sein Fahrer in der großen schwarzen Limousine auf ihn wartete und er nur die drei Schritte über den Bürgersteig gehen musste, trug er Mantel und Hut. In all den Jahren veränderte er seine Bürokleidung nicht, kaufte nur in regelmäßigen Abständen neue Mäntel und Hüte, ausschließlich Borsalinos; sechs besaß er davon, zwei schwarze, zwei braune und zwei dunkelblaue. Als er die Mäntel selbst bei den konservativsten Herrenausstattern in New York nicht mehr fand, ließ er sie sich maßschneidern.
Der Borsalino war sein Talisman. Seinen ersten italienischen Hut hatte er für sein erstes Vorstellungsgespräch gekauft. Er bekam die Stelle. Damals hatte er mit dem Hut sicher Stil und Geschmack bewiesen, doch mit den Jahren wirkte es altmodisch, dann spleenig, und schließlich sah er aus wie ein Komparse aus einem Film über die Fünfzigerjahre. Als Teenager schämte ich mich für seinen Aufzug, weil mein Vater so
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