Herzensach - Roman
streckte sich in der Ferne über die Bäume, keine Reklametafel am Straßenrand kündigte ein Gasthaus, die nächste Tankstelle oder Autowerkstatt an. Für einen Städter begann in solcher Verlassenheit bereits ein Survival-Training.
Er erinnerte sich an das Geräusch der Hubschrauber, an die Hektik und an das Entsetzen im Gesicht der Retter. Sie hatten ihm den Tod seiner Eltern schonend mitteilen wollen. Er wußte es schon beim ersten Wort. Er hatte überlebt, weil er aus dem Flugzeug geschleudert worden war.
Es war ihm kaum gelungen, um seine Eltern zu trauern. Sie hatten ein Leben ohne ihn geführt. Er war immer nur zu Besuch gewesen.
Zwar heilten seine Verletzungen schnell, doch als ihm die Ärzte eine zweite, winzig kleine Operation (Sie verstehen, geradezu lächerlich!) vorschlugen, begriff er, daß es ihn zum Gespött machen könnte, wenn jemand davon erfuhr.
Er erhob sich von dem Feldstein, als auch nach zehn Minuten noch kein Auto vorbeigekommen war, und entschied sich, die Straße zurückzugehen. Er schloß seinen Wagen ab und hatte sich kaum zehn Meter entfernt, als er sich abrupt umdrehte und doch in die andere Richtung marschierte.
Er vermochte später nicht mehr zu sagen, was diesen plötzlichen Sinneswandel bewirkt hatte, doch der Entschluß änderte nicht nur sein gesamtes Leben, sondern beschleunigte in dem knapp drei Kilometer entfernt liegenden Dorf Herzensach erneut eine Entwicklung, die bei den letzten Malen mit einem Toten geendet hatte.
Herzensach, benannt nach dem gleichnamigen Flüßchen, in dessen Biegung es lag und dessen Name den wenigen Reisenden Gelegenheit gab, darüber zu spekulieren, ob es sich um einen leidvollen oder freudvollen Ausdruck handle, und der in einer Untersuchung der Kreisverwaltung Weinstein hinsichtlich der für den Tourismus zu fördernden Gebiete des Kreises so schlecht weggekommen war, sollte Schlagzeilen machen.
Grund für Schlagzeilen hätte es bereits vor mehr als zweihundert Jahren gegeben, als das Herzensacher Tal durch einen Schenkungsakt des Grafen Weinstein in den Besitz des holländischen Piraten Cornelius van Grunten überging. Aus Angst vor den van Gruntens sprach man damals über die wahre Ursache der Besitzübertragung nicht. Heute erzählt sie der junge Gutsherr Jan van Grunten seinen Gästen mit besonderem Vergnügen und in immer neuen Ausschmückungen. (Der Pastor empfindet das als Geschmacklosigkeit.) Aber wer kann schon einen waschechten Freibeuter zu seinen Ahnen zählen? Besagter Cornelius van Grunten stand Mitte des achtzehnten Jahrhunderts als Kapitän in den Diensten der spanischen Krone, doch soll er es mit Freund oder Feind nicht so genau genommen haben, Hauptsache, die unter der Totenkopfflagge eingenommene Beute stimmte. Als er 1761 ein englisches Schiff – in der Annahme, es habe Gold geladen – kaperte, fielen ihm einige adlige Passagiere in die Hände, unter ihnen die zwölfjährige Catharina Clarabella von Weinstein, Tochter des Grafen Weinstein, auf der Reise zu englischen Verwandten (... daß es sich hier um die Winstons handelte, angeblich der englische Name für Weinstein, zu deren Nachkommen Winston Churchill zählte, ist nur ein ebenso beliebter wie dümmlicher Scherz des Gutsbesitzers). Die Piraten durchsuchten das Schiff, doch ihre Information, es habe Gold an Bord, erwies sich als falsch. Cornelius van Grunten ließ in seiner Wut die gesamte Besatzung töten, ebenso alle Adligen bis auf Catharina Clarabella und ihre Begleiterin Sophie, eine Freifrau von Wachenberg. Diese übernahm die schwierige Aufgabe, dem Grafen die Bedingungen für die Freilassung seiner Tochter zu überbringen. Auf einer aus dem Reisegepäck der Damen geraubten Karte von den gräflichen Ländereien hatte der Pirat das Herzensacher Tal eingekreist. Dieses Tal war die Gegenleistung für die Unversehrtheit Catharinas. Tatsächlich nahm der Graf die Besitzübertragung in aller Form vor, jedoch mit dem Zusatz, daß beim Ausbleiben eines direkten Nachkommens der Familie van Grunten der gesamte Besitz an die gräfliche Familie zurückfalle. Der Graf muß sich bei der Abfassung dieses Vertrages besonders raffiniert vorgekommen sein. Heutige Historiker, wie der Frankfurter Michael Leibrandt, sind allerdings der Meinung, er habe damit das Todesurteil für alle Weinsteins unterzeichnet. Die Schlußfolgerung, die van Gruntens hätten an den seltsamen Todesfällen und am mysteriösen Verschwinden der gräflichen Familienmitglieder einen mörderischen Anteil,
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