Herzensjunge
hören will?
Andreas seufzt. »Ich denke, dass Jan dich mag«, sagt er, »doch ich denke auch, dass er was Schweres mit sich herumschleppt, und vielleicht wünsche ich meiner kleinen Schwester was Leichteres.«
Das Schwere drückt mir auf einmal mächtig aufs Herz. »Du meinst den Tod seiner Mutter?«, frage ich.
»Hängt wohl damit zusammen«, sagt Andreas, »aber da scheint mir noch was anderes zu sein.«
»Ist das schon länger her, dass sie gestorben ist?«
Andreas hebt die Schultern. »Weiß ich nicht«, sagt er. »Jan ist ziemlich schweigsam, wenn es um seine Vergangenheit geht.«
»Er hat doch ganz selbstverständlich erzählt, dass seine Mutter ihm die Bücher von diesen Malern hinterlassen hat«, sage ich, »und seine Mütze hat er auch abgezogen.«
»Dann sprich ihn mal auf die Narbe an«, sagt Andreas, »da geht er drüber hinweg, als hättest du Halluzinationen, und kommt gleich auf ein anderes Thema.«
»Was ist sein Vater eigentlich für ein Typ?«, frage ich.
»Den habe ich noch nicht kennengelernt«, sagt Andreas.
Nein. Ich will nicht schon aufhören, mutig zu sein, und darum sage ich, was ich sagen muss. »Ich kann mir
kaum was Schöneres vorstellen, als mit Jan zusammen zu sein«, sage ich.
»Ich wollte dich nur warnen, Schwesterlein.«
»Glaubst du, Hanna ist was passiert?«, frage ich. Sicher um vom Thema wegzukommen. Doch nicht nur. Ich mache mir wirklich Sorgen.
»Nein«, sagt Andreas, »vermutlich will sie nur allen Angst einjagen. Allen voran der Hettich. Ich denke, sie sitzt irgendwo gemütlich im Trockenen und wird bald hervorkommen.«
»Wo soll denn dieser trockene und gemütliche Platz sein?«
Andreas steht auf. »Ich gehe jetzt los«, sagt er, »will noch ein paar Bücher zurückbringen. Denk du noch mal nach. Bis vor Kurzem hingt ihr doch wie die Kletten zusammen.«
Tja. Bis vor Kurzem. Da war die Welt noch ganz anders. Ich bleibe am Küchentisch sitzen und brüte vor mich hin. Und dann gucke ich auf den Wecker, der neben dem Herd steht, weil die Eieruhr kaputt ist, und sehe, dass es höchste Zeit für die Schule wird. Komme nicht mal mehr dazu, was von dem Kajal ums Auge zu tupfen. Aus der kleinen Flasche, die Oma mir geschenkt hat. Es ist wirklich ein Glück, dass Jan nicht auf unsere Schule geht. Wenn er mich jetzt so sähe. Jeans und Pullover und gar kein Geheimnis im Gesicht.
13
Heute war die Direktorin wieder in der Klasse. Ich kriege in diesen Tagen immer einen Schock, wenn ich die König sehe. Denke dann, sie sei die Überbringerin schlechter Nachrichten. Doch sie bat uns nur, gründlich darüber nachzudenken, wo Hanna stecken könnte. Wenn sie nicht bald auftauche, würde die Kriminalpolizei eingeschaltet.
»Die Mordkommission«, krähte Max.
Er ist ein Idiot. Doch ich zuckte trotzdem zusammen.
Mathe fällt aus. Die Hettich scheint gar nicht in der Schule zu sein. Wir haben eine Freistunde und keiner kümmert sich um uns. Nicht einmal Hagen, unser Klassenlehrer. Dabei hat er eine Ausbildung zum Vertrauenslehrer gemacht.Wäre gut, wenn wir ihm jetzt unser Vertrauen schenken könnten. Um ihm was zu sagen? Ich weiß es nicht.
Im Sommer, als noch alles in Ordnung war bei Hanna und mir, sind wir gelegentlich zum Goldbekufer gegangen. Da ist der Goldbekkanal, einer von hunderten Kanälen, die durch Hamburg fließen. An diesem Kanal gibt es Schrebergärten mit Häuschen drauf. Eines von den Häuschen stand leer. Dahin haben wir uns manchmal zurückgezogen, um vor Müttern und Vätern und Brüdern sicher zu sein.Vor der Tür des Häuschens hing ein dickes Vorhängeschloss. Das haben wir auch nicht aufgebrochen. Saßen immer nur auf der Bank, die draußen angebracht war. Haben da gesessen und in den Holunder geguckt und gequatscht.
Vielleicht sollte ich mal nachsehen gehen heute Nachmittag.
Franziska kommt auf mich zu. Fuchtelt mit den Fingern, als sei sie Gundel Gaukeley, die gleich zu hexen anfinge, um Onkel Dagobert den ersten selbst verdienten Taler abzunehmen. Hat jetzt nicht nur Silberringe an den Fingern, die gute Franzi Gaukeley, sondern auch silbernen Lack auf den Nägeln. »Wie hältst du das aus?«, fragt sie.
»Was?«, frage ich.
»Die Vorstellung, dass Hanna etwas zugestoßen ist.«
»Das wissen wir doch gar nicht«, sage ich. Wie ich Unken hasse.
Gott sei Dank kommt Luisa dazu. Ich habe sie ein bisschen aus den Augen verloren, wie man jemanden aus den Augen verlieren kann, der ganz vorne vor dem Lehrerpult sitzt und man selbst ganz hinten. Das
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