Herzensjunge
nach den Sommerferien war es, Hanna und Kalli gingen noch gar nicht miteinander, da waren Hanna und ich in der Schanze, um eine alte Freundin zu besuchen, die mal in unserer Schule war. Die Schanze ist ein zu schräges Viertel, um den eigenen Eltern davon zu erzählen, dass man dort in einer Wohnung ein und aus geht. Dann fangen sie an, sich zu beunruhigen, und fragen dauernd nach. Tun wir ja eigentlich auch gar nicht. Ein und aus gehen. Ich jedenfalls kann das von mir sagen.
Lilli, unsere alte Schulfreundin, lebt dort mit ihrer großen Schwester und zwei anderen in einer Wohngemeinschaft. Da habe ich diese Sitzlandschaft gesehen. Sah aus wie ein Stück vom Sperrmüll. Die ganze Wohnung hat was davon. Doch für Lilli ist es sicher besser, da zu leben, statt mit ihrer Mutter, die wohl ziemliche Probleme hat und schon mit sich alleine kaum klarkommt.
Kann ich mir schon vorstellen, dass dies der Ort ist, an dem Hanna trocken und gemütlich sitzt. Na ja. Gemütlich. Geht so. Doch es ist sicher ein Ort, an dem die Bewohner ganz locker damit umgehen, wenn mal ein Gast für ein paar Tage bleibt, und keiner kommt so schnell auf die Idee, die Eltern zu benachrichtigen oder die Polizei.
Ich könnte nun Hannas Eltern anrufen. Das wäre einfach. Das wäre fair. Oder meinen Eltern von dieser Vermutung erzählen und so den Apparat in Bewegung setzen. Tu ich alles nicht. Will ich die Heldin des Tages werden oder was reitet mich? Ich glaube, ich will diejenige sein, die Hanna findet. Um unserer alten Freundschaft willen.
Es ist kurz nach halb sechs und noch hell, als ich beschließe, mich allein auf den Weg zu machen. In einer halben Stunde wird es dunkel sein. Das geht jetzt in großen Schritten voran mit der frühen Dunkelheit. Ich mag den Herbst. Er ist heimelig. Vor allem wenn man drinnen ist und nicht in die Kälte hinausmuss. Doch ich bin nicht aufzuhalten. Ich winke kurz in die Küche hinein, in der Mama und Papa noch mit Oma am Tisch sitzen.
»Wo gehst du hin?«, fragt Mama.
»Nur kurz was erledigen«, sage ich und bin erstaunt, dass sie nicht nachfragt. Hätte ich dann gelogen? Gesagt, dass ich zu Luisa gehe, um mir das Mathebuch zu leihen, das ich in der Schule vergessen habe? Das würde meine Mutter erstaunen, weil morgen Samstag ist und ich kaum vor Sonntagabend auf die Idee käme, ein Buch zu vermissen.
Ich gehe zum Mühlenkamp und steige in den Sechser. Vier Tage ist es erst her, dass Jan hier aus dem Bus stieg und am Balzac vorbeiging. Ganz schön viel geschehen in diesen Tagen.Am Hauptbahnhof wechsle ich in die U-Bahn, um in die Schanze zu kommen. Ich bin nervös.Warum eigentlich? Weil es oberstes Gesetz bei uns ist, dass ich abends nicht allein in der Gegend herumlaufe? Oder weil ich unsicher bin, wie Hanna reagieren wird und Lilli und ihre Schwester Karla?
17
Die Schanze ist wirklich speziell. Früher war da der Schlachthof, heute ist es multikulti.Von den alten Häusern sind einige ziemlich abgetakelt. Das Haus, in dem Lilli lebt, auch. Die Haustür steht offen und ich steige die steilen Stufen zum eigentlichen Treppenhaus hoch. Klingele im zweiten Stock links. Hinter den Türen tobt das Leben. In allen Sprachen. Nur hinter dieser Tür ist es still.Vielleicht sitzen sie im Kino oder beim Türken und die ganze Aktion war umsonst. Denn lange kann ich hier nicht ausharren.Wer weiß, was Mama und Papa anstellen, wenn ich nicht bald wieder zu Hause bin. Ich fürchte, ihre Nerven sind weniger stark als die von Hannas Eltern.
Ich klingele noch einmal, kriege kaum den Finger vom Klingelknopf und höre dem Lärm zu, den ich da erzeuge, denn auf einmal ist kein anderer Laut mehr zu hören im Treppenhaus. Vielleicht gucken alle Fernsehen. Oder sie sitzen um einen Küchentisch herum und essen. Essen schweigend. Ich setze mich auf die Treppe. Die Glühbirne über mir geht aus, und ich springe auf, um den Lichtknopf zu drücken.
Die Schritte kommen aus dem obersten Stock. Die Holzstufen knarren.
Was tue ich eigentlich in diesem fremden Haus? Das ist jetzt ungut, hier zu stehen und zu hören, wie da jemand Stufe für Stufe nach unten geht. Schleicht. Ja. Er schleicht. Als hätte er Angst, bei mir anzukommen. Noch größere Angst, als ich sie habe.Verdammt.
Im Stockwerk über mir bleibt er stehen. Jetzt knackt
das Geländer.Vielleicht beugt er sich darüber und guckt durch das Oval, das die sich windende Treppe freilässt vom obersten Stock bis zum Erdgeschoss.
Ich nehme allen Mut zusammen, stehe auf und gucke
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