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Herzensjunge

Titel: Herzensjunge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carmen Korn
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hat geöffnet. Dafür war bei uns ein Gedränge vor der Tür. Mama und Oma waren gleichzeitig angekommen und jede von ihnen hatte die Hände voller Tüten. Mama war wohl noch auf dem Markt gewesen, denn ihre Einkäufe schienen vor allem aus Grünzeug zu bestehen. Bei Oma hatte ich die schlimmsten Ahnungen. Doch sie trogen mich. Kein Kuchen. Klamotten waren in ihren Tüten.
    »Ich wollte dich mal anspitzen«, sagte sie, »darum bin
ich in meinen Schrank gekrochen und habe eine Kollektion zusammengestellt.«
    Wir gingen in die Küche und sie schüttelte die Tüten auf dem Tisch aus.
    »Tonilein«, sagte Oma, »ich habe den Eindruck, du bist noch gar nicht angekommen in deinem Körper. Ist ja auch alles zu schnell gegangen, das Wachsen und die ganzen Veränderungen. Du traust dich einfach noch nichts. Da wollte ich dir auf die Sprünge helfen.«
    Ich gebe zu, dass mir ein wenig schwach geworden ist nach dieser Ankündigung. Auch wenn sich das doch irgendwie mit dem deckte, was ich mittags in der Schule gedacht hatte. Küken und Schwan. Schalen abstreifen. Ein Glanz werden. Doch Oma kann gnadenlos sein in ihrer Güte. Ich hatte Angst, sie wollte mich verkleiden. Mich in ihr junges Selbst verwandeln und ich dürfte es nur noch abnicken.
    Doch ich täuschte mich schon wieder in Oma. Sie zog sich mit Mama an Mamas Schreibtisch zurück und ließ mich mit ihren Schätzen allein. Erst einmal machte ich ein paar Fehlgriffe. Ein durchsichtiges Hemd mit Spitzenborten, in dem ich aussah wie eine schwangere Gardine. Eine Hose, die so um die Knöchel schlackerte, dass man unweigerlich mit einem Fuß ins andere Hosenbein geriet.
    Dann zog ich ein Kleid an, das ich erst links liegen gelassen hatte, weil es mir viel zu lieblich zu sein schien. Da schrecke ich immer zurück, weil ich denke, dass man mit eins sechsundsiebzig auf sportlich machen muss. Aber was soll ich sagen? Ich habe in den Spiegel geguckt und gestaunt.

    Da stehe ich immer noch. Vor dem Spiegel. Oder schon wieder. Oma hat mir ein wenig Kajal aus einem Fläschchen um die Augen getupft. Sieht ganz anders aus als die Trauerumrandung, die sich Hanna heute mit ihrem Stift gemalt hat. Geheimnisvoll sieht es aus.
    Ich seufze und drehe den Kopf und die Ohrclips klingen wie zwei Glasperlenspiele. Das können meine kleinen silbernen Hufeisen nicht.
    Goldene Perlen, orange Perlen. Das Kleid fängt die Farbtöne der Clips auf. Gold und ein kupferschimmerndes Rot.
    Da klingelt es an der Tür und schon höre ich die Stimme meines großen Bruders. Ich kehre dem Spiegel den Rücken zu und bleibe am Ende des Flurs stehen. Hoffentlich erspart mir Andreas einen Kommentar, der diese Verwandlung ins Lächerliche ziehen könnte.
    »Hallo, Schwesterlein«, sagt Andreas. Er sagt es ganz sanft.
    »Du siehst wunderschön aus«, sagt eine andere Stimme, »wie auf einem Bild von Waterhouse.«
    Ich kenne weder die Stimme, die da spricht, noch kenne ich einen Waterhouse. Ich stehe im Flur und schaue auf meine nackten Füße, als traute ich dem Augenblick nicht genügend, um den Blick zu heben.
    »Ich habe Jan mitgebracht«, sagt mein Bruderherz. »Du wolltest ihn doch auch mal kennenlernen.«
    Das hätte jetzt nicht sein müssen. Ich merke, dass sich mein Gesicht den Farben des Kleides anpasst. Nur noch mehr ins tiefe Rot.
    »Ungewöhnlich, dass ein Junge in deinem Alter einen präraffaelitischen Maler wie Waterhouse kennt«, höre
ich meinen Vater im Hintergrund. Gott, oh Gott. Ist er auch schon da. Gleich wird er einen Vortrag halten.
    »Meine Mutter hat mir ein Buch über die Präraffaeliten hinterlassen«, sagt Jan. »Sie liebte vor allem die Lady of Shalott sehr, das Bild von Waterhouse.«
    Mein Vater nickt und setzt zu einer Rede an, die ohne Zweifel von toten Müttern und präraffaelitischen Malern handeln wird. Doch da greift Oma ein. Sie hat einfach einen sechsten Sinn.
    »Ich würde dir gern etwas zeigen«, sagt sie zu ihrem Sohn, »du musst mir nur folgen.« Und sie lenkt ihn ins Arbeitszimmer.Was wird sie aus dem Hut zaubern? Die Gute.
    »Kommt ihr zwei doch in mein Zimmer«, sagt Andreas zu Jan und mir.
    Als wir in das Zimmer meines großen Bruders treten, nehme ich erst wahr, dass Jan seine Mütze abgenommen hat und in der Hand hält. Seine dichten, dunklen Locken teilen sich an einer Stelle und lassen eine Narbe sehen. Als hätte er einmal einen heftigen Hieb auf den Kopf bekommen. Ich denke an ein Schwert. Meine märchenhafte Aufmachung entrückt mich eindeutig in eine zu ferne

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