Herzensjunge
sonst käme mir so was gar nicht erst in den Sinn.
»Wir sollten mal was in die Pfanne hauen, wenn der Rest der Familie gleich kommt«, sagt Oma.
Papa wird sich eher Rohkost raspeln. Wo sind überhaupt Papa und Adrian? Die müssten doch längst da sein.
»Weiß Papa schon von Omas Operation?«, frage ich.
»Ja«, sagt Oma, »und er ist erst einmal eine Blockflöte kaufen gegangen. Hat mit der Herzklappe nicht direkt was zu tun.«
Ich gucke Mama an. Papa ist doch sonst ein Mensch, der Sinn für Prioritäten hat. Die Blockflöte steht sicher nicht oben auf der Liste der Dringlichkeiten. Wieso überhaupt Blockflöte? Das will er mir doch wohl nicht antun. Der Mann, den ich liebe, ist ein Virtuose auf dem Klavier, und ich spiele Blockflöte.
»Papa meinte, dass es höchste Zeit sei, sich um Adrians musikalische Früherziehung zu kümmern«, sagt Mama mit einem kleinen Seufzer, »ich bin auch überrascht, dass es gerade jetzt sein muss.«
»Weißt du, Tonilein«, sagt Oma, »auch erwachsene Kinder haben es gar nicht gern, wenn ihre Eltern krank werden. Sie wollen sie stark und unsterblich. Jedenfalls ziemlich lange noch.«
»Du bist doch auch erst zweiundsechzig«, sage ich.
»Eben«, sagt Oma, »dreißig Jahre will ich noch leben.«
15
Papa und Adrian kamen nach Hause und Papa trug eine Tüte von Kruizenga in die Küche. Kruizi ist einer der Delikatessenläden in Hamburg und wir kaufen sonst nie dort ein. Papa stellte eine große Klarsichtdose vor Oma hin. »Krabbensalat«, sagte er, »den isst du doch gerne, und Weißbrot und Wein habe ich auch mitgebracht.«
Oma grinste. »Für eine Henkersmahlzeit ist es zu früh, Sohn«, sagte sie, »und die Letzte Ölung will ich auch noch nicht haben.Toni und ich haben gerade beschlossen, dass ich noch dreißig Jahre lebe.«
Doch sie war sehr gerührt, das konnten wir ihr ansehen. Gerade weil Papa ein Asket ist und Weißbrot und Krabben in Mayonnaise nicht gerade auf seinem Speiseplan stehen.
»Wo ist denn die Blockflöte?«, fragte Mama.
»Die kaufen wir erst später«, sagte Adrian und schien erleichtert, vorerst davongekommen zu sein. Er ist ohnehin nicht gerade das musikalischste Talent der Familie. Adrian hat zwar eine hohe, klare Stimme, doch er trifft keinen Ton. Töne treffe ich. Doch sonst tue ich mich nicht gerade hervor im Musikunterricht. Hoffentlich stört sich Jan nicht daran.Vielleicht hat er längst ein Auge auf ein Mädchen von »Jugend musiziert« geworfen, die Bratsche spielt oder Querflöte, und ich habe das, was gestern Abend geschah, völlig überbewertet.
Moment mal. Was ist denn überhaupt geschehen? Er hat gesagt, ich sähe wunderschön aus. Wie auf einem Bild von Waterhouse. Das ist nett von ihm und gebildet. Doch es bedeutet nichts. Nichts!
Als mir das klar wurde, ist mir der Krabbensalat im Halse stecken geblieben. Oma hatte darauf bestanden, dass wir alle eine Kostprobe nehmen. Dazu haben wir dann gegessen, was Mama in die Pfanne gehauen hat, bevor Papa mit seinen Einkäufen kam. Champignons aus der Dose. Das geht hier eigentlich sonst nicht durch. Das fällt durch Papas Frischetest. Doch Mama hat einen kleinen heimlichen Vorrat an Dosen, weil es das Zubereiten
einer Mahlzeit doch sehr beschleunigt und Mama dann an ihren Schreibtisch gehen kann.
Papa ist auch gar nicht weiter auf die Champignons eingegangen, er schien zu besorgt um Oma zu sein. Hat ihr Wein eingeschenkt, obwohl es doch erst Nachmittag war, und sie dann und wann liebevoll betrachtet. Sonst ist er eher zurückhaltend in seinen Gefühlsbekundungen. Oma meinte mal, das käme daher, dass sie ihn in einen antiautoritären Kindergarten geschickt hätten. Da hätte es so viel Krawall gegeben, und alle wären ständig dazu aufgefordert worden, ihre Emotionen auszuleben, dass Papa die Nase voll habe von heftigen Ausbrüchen.
Meine Großeltern haben wohl alles mitgemacht, was in den Sechzigerjahren angesagt war. Einmal haben sie sogar in einer Kommune gewohnt, das heißt mit einigen anderen Leuten die Wohnung geteilt. Eine Wohngemeinschaft eben.
Das ist mir alles durch den Kopf gegangen, während ich Champignons auf die Gabel pikste. Und da hatte ich den Geistesblitz, und auf einmal eine Ahnung, wo Hanna stecken könnte.
16
Diese Sitzlandschaft, auf der Hanna und Kalli geknutscht haben und sich unglückseligerweise dabei filmen ließen, ich hatte doch das Gefühl, sie schon einmal
gesehen zu haben. Déjà-vu, nennt man so was, sagt Oma. Die hat dauernd Déjà-vus.
Kurz
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