Herzflimmern
›schuldete‹, hatte er gesagt. Der Form des Päckchens nach hätte sie auf ein Schmuckstück getippt, eine Halskette vielleicht. Aber was hatte eine Kette mit einer Schuld zu tun?
Sie nahm das Päckchen zur Hand und schüttelte es. Nichts rührte sich. Schließlich machte sie die Schleife auf und schlug die Goldfolie auseinander.
Es war eine Videokassette. Sie drehte sie in der Hand. Nirgends ein Etikett; nicht eine Zeile der Erklärung.
Neugierig nahm sie Weinglas und Kassette und ging ins andere Zimmer hinüber, wo der Videorecorder stand. ›Du hast bestimmt keinen meiner Filme gesehen‹, hatte Jonathan im Restaurant gesagt. War dies einer seiner Filme? Der letzte aus seiner Serie vielleicht?
Nachdem Mickey die Kassette eingelegt hatte, füllte sie ihr Glas auf, setzte sich in das tiefe Sofa, und drückte auf den Knopf der Fernbedienung. Gespannt starrte sie auf den flimmernden Bildschirm. Es kam ein Moment grauer Leere, dann wurde es mit einem Schlag strahlend hell und lebendig.
{312}
Eine Geburt. In einem Schwall dunklen Blut glitt der Säugling aus dem Mutterleib.
Die Kamera ging auf Distanz und zeigte das Team der Notaufnahme bei der Arbeit. Wiederbelebungsversuche bei der bewußtlosen Mutter, der man die Kleider vom Körper geschnitten hatte. Das zerknitterte Neugeborene. Ein Wirrwarr von weißen Kitteln. Ein junger Polizist, der ohnmächtig wurde. All dies spielte sich in einem Vakuum der Stille ab. Nichts lenkte den Zuschauer von dem dramatischen Moment der Geburt ab.
Dann kam der Ton, erschreckend im ersten Moment. Sirenengeheul, dröhnende Schritte, zunächst alles untrennbar miteinander verschmolzen, ein einziges, beinahe ohrenbetäubendes Getöse, das sich langsam entwirrte, differenzierte. Eine scharfe Anweisung hier, das Knallen einer Tür dort. Dann ein langsames Zur-Ruhe-Kommen und schließlich eine Stimme, die müde sagte: »Sie kommen beide durch.«
Und auf dem Bildschirm die Worte:
Medical Center.
Mickeys Augen wurden feucht. Da war Ruth im grünen Kittel. Zornig blickte sie in die Kamera. Eine jüngere Ruth, schmaler, energischer in ihren Bewegungen, eine Frau, die es eilig hatte. Und da war Sondra, schön und exotisch, häufig über die Schulter nach rückwärts blickend, als fühle sie sich von einem Phantom gejagt. Und nun Mickey, ungestüm, mit entschlossenem Schritt vorwärtsstürmend, als wolle sie es mit der ganzen Welt aufnehmen.
Mickey sah sich, wie sie mit fliegendem Kittel durch den Korridor einer Trage hinterherrannte. Die nächste Aufnahme zeigte eine junge Schwester, über dem Körper eines sterbenden Patienten. Dann ein rascher Schwenk auf Mickey, mit ernstem Gesicht und einer langen Nadel in der Hand.
Kein Script, keine Vorlage, keine Schauspieler, hatte Jonathan vor vierzehn Jahren gesagt. Dies war keine Schauspielerin; diese junge Frau war Mickey Long, Medizinstudentin im vierten Jahr, unerschütterliche und unermüdliche Helferin der Leidenden und Kranken. Es war beinahe peinlich, diese wilde Entschlossenheit zu sehen.
Der Film öffnete die Türen zu anderen Erinnerungen. Sie dachte an die zwölfjährige Mickey, die wieder einmal ängstlich und schüchtern das Sprechzimmer eines Arztes betrat und am liebsten auf und davon gelaufen wäre, als der Arzt ihr Gesicht berührte; Mickey, die wie eine Wahnsinnige zur Toilette raste, weil sie noch ihr Gesicht abdecken wollte, obwohl sie für Dr. Morenos Seminar sowieso schon zu spät dran war; Mickey am Great Victoria, voller Feuer und Idealismus, bereit, für ihre {313} Überzeugung zu kämpfen, sei es mit Dr. Mason oder mit Gregg Waterman; Mickey, die jede Herausforderung annahm und sich durch nichts abschrecken ließ.
Sie sah mit einem Blick ihr ganzes Leben – die Entschlossenheit, den Kampfgeist –, und sie dachte: Wann habe ich aufgehört, etwas zu riskieren?
Als der Film abgelaufen war, stand Mickey auf. Sie drehte sich um. An der Tür stand Sondra.
»Ich dachte, ich hätte etwas gehört«, sagte sie.
»Wieviel hast du gesehen?«
»Genug.«
Mickey lächelte. »Setz dich. Ich laß ihn nochmal laufen. Und später rufe ich Sam Penrod an. Er hat leider soeben eine Patientin verloren.«
35
›Liebe Dr. Ruth: Mein Mann und ich sind seit sechs Jahren verheiratet und wünschen uns dringend ein Kind, aber mein Mann ist steril. Wir haben uns für eine Adoption vormerken lassen, aber die Wartezeit beträgt mindestens vier Jahre. Unser Arzt informierte uns über künstliche Befruchtung über eine Samenbank, aber
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