Herzgesteuert: Roman (German Edition)
will. Die Mutter. Nicht die Tante.« Sie sieht mich über ihre Brillengläser hinweg mit hochgezogenen Brauen an. »Wenn alle Lehrer die gesamte Verwandtschaft anrufen würden, nur weil ein Kind in ihrem Fach auf vier steht, wäre das ja wohl übertrieben.«
»Ja, logo«, lenke ich ein. »Ich meinte nur, wo du sowieso so gut in Mathe bist, da dachte ich …«
» Was dachtest du?«
»Na ja, du könntest vielleicht ein bisschen mit ihr üben …«
»Ich war mal sehr gut im Rechnen«, bläht sich Christiane auf. »Aber das ist jetzt dreißig Jahre her. Die Kinder benutzen inzwischen Computer und so was. Das kriege ich nicht mehr hin. Ein bisschen musst du dich schon selbst engagieren.« Ihr knallroter Schnabel wird spitz.
Oje. Jetzt lieber kein Porzellan zerbrechen. Lieber ein überengagiertes Gluckenhuhn in der Hand als ein kaltherziges Kindermädchen auf dem Dach.
»Schon gut. Ich werde den Mathelehrer anrufen und mich um die Sache kümmern.«
»Vom Kümmern allein wird das nichts«, wirft Christiane noch ein, als sie sich zum Gehen wendet. Umständlich bindet sie sich ein Seidentuch mit vielen Hühnern und Enten darauf um den Hals und stopft es sich in den Ausschnitt ihres altrosafarbenen Kostüms. Ich würde ihr zu gern den Schnabel damit stopfen!
» Pauken musst du mit ihr. Die Zeit musst du dir schon nehmen.« Endlich flattert sie durch den Vorgarten davon. Ich kann ihre Rechthaberei nicht mehr ertragen. In die Ecke, Besen, Besen!
Ärgerlich schließe ich hinter ihr die Haustür ab.
Fanny hat mir gesagt, dass ihr Mathelehrer ein komplettes Arschloch sei.
Nie dreht er sich von der Tafel zur Klasse um, nie kümmert er sich darum, wenn jemand aufzeigt und noch eine Frage hat, und immer überzieht er die Stunde. Außerdem kommt er immer mit dem Fahrrad, hat lange Haare und sieht scheiße aus.
»Der Rottweiler hat uns zwanzig Seiten aufgegeben, die er alle noch überhaupt nicht erklärt hat«, höre ich dann, oder: »Der Rottweiler hat gesagt, im Test kann alles vorkommen, nichts ist unmöglich, Toyoootaaaa!«
Ich stelle mir diesen Rottweiler bildlich vor, wie er mit tropfenden Lefzen vor der Klasse steht, an seiner Kette zerrt und schadenfroh in die Runde bellt.
Mein zartbesaitetes, musisch hochbegabtes Mädchen ist natürlich völlig überfordert, wenn so ein Unmensch es an die Tafel holt und vor versammelter Klasse auffordert, ein stumpfwinkliges Dreieck zu zeichnen, dessen Unterseite Oberlippe gleichschenklig zu einem völlig hirnrissigen Parallelogramm steht, welches wie ein Trapez im Umfang zu berechnen ist.
»Der Rottweiler hat so fies gelacht, als ich das nicht konnte!« Fanny hat ganz rote Wangen vor Empörung. »Und dann hat er mir gesagt, dass ich auf einer ganz knappen Vier stehe, die schon mit einem ihrer vier Beine auf der Fünf steht!«
Ist der gemein! So ein … Rohling, ein Kinderquäler, ein Sadist! Ganz ohne Maulkorb lässt man so einen Finsterling auf die armen Kinder los!
»Wir schreiben nächste Woche den entscheidenden Test«, sagt Fanny ohne Hoffnung in der Stimme. »Ich habe noch nie im Leben einen Fünfer gehabt.«
Das würde Christiane so passen.
Dass mein (!) Kind eine Fünf im Zeugnis bekommt.
»Komm, gib mir mal deine Aufgaben.« Entschlossen greife ich nach ihrem Heft, in das sie zwar sehr sorgfältig, aber anscheinend ohne wahren Durchblick Dreiecke, Vierecke, Quadrate und andere ulkige Muster gezeichnet hat.
»Das sieht doch alles schon mal ganz hübsch aus«, lobe ich. »Sehr ordentlich und … ähm … sauber.«
»Mama! Du nervst! Darum geht es doch gar nicht!« Fanny haut auf den Tisch.
»O doch. Geometrie hat in erster Linie was mit Präzision und Genauigkeit zu tun«, beharre ich. »Das ist das Um und Auf.«
Fanny schaut mich abwartend an.
»Soweit ich mich erinnere, war ich gut in Geometrie«, behaupte ich. »a 2 + b 2 = c 2 .«
»Das haben wir noch nicht gehabt.«
»Das ist der Satz des Pythagoras.« Erstaunlich, dass mir solche Lappalien nach zwanzig Jahren wieder einfallen.
»Mamaaa! Das hilft mir jetzt auch nicht weiter!« Fanny will mir schon das Heft aus der Hand reißen, aber so schnell lasse ich mich nicht unterkriegen.
»Gib mir mal die erste Aufgabe.«
»Kannst du eh nicht.«
»Doch. Kann ich.«
»Christiane hat gesagt, du warst in Mathe voll der Versager.«
»So. Hat sie das gesagt.«
»Na ja, nicht so wörtlich. Aber so ähnlich.«
Ich krempele mir die Ärmel hoch. »Okay. Jetzt erst recht. Und wenn ich die ganze Nacht mit dir über
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