Herzgrab: Thriller (German Edition)
nimm deinen Koffer! Du musst endlich von hier abhauen!
Da sah sie im Kommodenspiegel, wie sich hinter ihr langsam die Tür des begehbaren Schranks öffnete.
Sie wagte nicht zu atmen, auch nicht, sich umzudrehen. Gebannt fixierte sie die Holzlamellen. Das Innere des Schranks lag im Dunkel, und es war nichts zu erkennen. Die Scharniere quietschten. Etwas befand sich darin.
Im nächsten Moment würde sie erfahren, was es war – während das Radio plärrte und das Läuten der Glocken immer noch von draußen ins Zimmer drang.
I – Wien, einen Monat später – Montag, 24. Mai
» Wer stärker liebt,
ist immer der Schwächere. «
Eleonora Duse
1
Das Hotel Caruso in der Wiener Innenstadt versprach von außen weit mehr, als die schäbige Einrichtung hielt. Das wusste Elena Gerink von früheren Besuchen. An den zuckenden Leuchtreklamen der Kondom- und Zigarettenautomaten neben dem Rezeptionstisch hingen Spinnweben. Die Tapete löste sich an den Ecken von der Wand, und die Dielenbretter knarrten, als stammten sie noch aus dem neunzehnten Jahrhundert. Wahrscheinlich war das auch so. Doch wer um zehn Uhr vormittags in diesem Etablissement ein Zimmer für eine Stunde mietete, war nicht an den Tapeten interessiert.
Soeben stieg wie erwartet eine Blondine mit Sonnenbrille und Kopftuch vermummt aus dem Taxi. Sie war etwa in Elenas Alter, Anfang dreißig. Seit einer Woche das gleiche Prozedere. Die Frau kam in Begleitung eines Mannes mit Stoppelbart und kantigen Gesichtszügen. Sie bezahlte das Taxi, und beide verschwanden im Hotel.
Elena stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten einer Hauseinfahrt und wartete noch ein paar Minuten. Schließlich kramte sie eine Sonnenbrille aus ihrer Handtasche, setzte sie auf und überquerte mit ihrem schweren Aktenkoffer die Straße. Es war ein merkwürdiges Gefühl, mit den Stöckelschuhen plötzlich fünf Zentimeter größer zu sein, einen so kurzen Rock und eine enge Bluse zu tragen. Sie selbst besaß solche Klamotten nicht. Mit ihrer schlanken Figur, der strubbligen brünetten Kurzhaarfrisur, den Sommersprossen und der Stupsnase hatte sie das nicht nötig. Aber Toni hatte gemeint, damit würde sie in einer Absteige wie dem Hotel Caruso angemessener aussehen, und ihr die Kleidung geliehen.
Elena blickte sich um. Niemand folgte ihr. Als sie die Treppe zum Hotelfoyer erreichte, trat ein Mann aus der Einfahrt des Nebengebäudes. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus. Gerhard Hödel! Der hochgewachsene graumelierte Mann im Anzug ging ebenfalls auf das Hotel zu. Rasch versperrte sie ihm den Weg.
» Was zum Teufel machen Sie hier? « Elena schob ihre Sonnenbrille auf die Nasenspitze und warf ihm über den Brillenrand einen unmissverständlichen Blick zu.
» Sie sind es! «
» Natürlich, was dachten Sie? « Sie schob die Brille wieder h in auf. » Warum sind Sie mir gefolgt? «
» Ich bin nicht Ihnen gefolgt « , rechtfertigte er sich, während er zum Hoteleingang blickte. » Ich habe in Lydias Büro angerufen, und ihre Sekretärin sagte mir, sie sei außer Haus. Im Kalender war aber kein Termin eingetragen. «
Elena konnte es nicht fassen. » Und das hat Sie ausgerechnet hierhergeführt? «
Er zog eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche. Hotel Caruso stand darauf. » Habe ich in ihrer Manteltasche gefunden. «
Jetzt war Elena alles klar. Hödel war nicht dumm und hatte seine eigenen Schlüsse gezogen. Doch im Moment war er so hilfreich wie eine halbseitige Lähmung.
» Ich habe volles Vertrauen in Ihre Arbeit « , rechtfertigte er sich. » Aber … «
» Ich kann Sie gut verstehen « , unterbrach sie ihn. » Aber Sie sollten wieder zurück in Ihre Bank gehen. Ich kann Sie hier nicht brauchen. « Sie blickte sich um. Einige Passanten auf der anderen Straßenseite sahen zu ihnen herüber. » Ich gehe allein in dieses Hotel – es ist besser so. «
Sie durfte nicht noch mehr Zeit verlieren. Ohne weiteren Kommentar wandte sie sich von ihm ab und betrat mit dem Aktenkoffer das Etablissement.
In dem langen Vorraum roch es nach süßem Damenparfüm. Am Ende des Flurs befand sich der Rezeptionstisch. Dahinter saß ein schmächtiger Knabe im blauen Hemd, der kaum älter als neunzehn war. Vielleicht ein Student. Irgendwo lief ein Fernsehgerät. Sie hörte Gelächter und Charlie Sheens Synchronstimme. Eine alte Folge von Two and a Half Men.
» Ein Zimmer für eine Stunde « , sagte Elena.
Der Junge blickte nicht einmal auf. » Allein? «
Bevor sie
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