Herzschlag der Nacht
nicht gleichgültig war.
Kapitel 2
D er September brachte trockenes, klares Wetter, und die Pächter wie Arbeiter auf dem Ramsay-Anwesen fuhren eine Ernte ein, wie sie in dieser Üppigkeit noch nicht da gewesen schien. Wie jeder andere auf dem Anwesen war auch Beatrix mit der Ernte und den darauffolgenden Festen beschäftigt. Es wurde ein großes Abendessen mit kalten Speisen ausgerichtet und danach ein Tanz auf dem Anwesen von Ramsay House, zu dem über tausend Gäste, einschließlich Pächtern, Bediensteten und Dörflern geladen waren.
Zu Beatrix’ Verdruss war Audrey Phelan nicht imstande, den Festlichkeiten beizuwohnen, da ihr Gemahl von einem hartnäckigen Husten geplagt wurde, sodass sie daheimblieb, um ihn zu umsorgen. »Der Arzt hat uns einige Medizin gegeben, die John bereits sehr gut half«, schrieb Audrey, »aber er mahnte, dass unausgesetzte Bettruhe zwingend für eine Aussicht auf vollständige Genesung wäre.«
Ende November wanderte Beatrix nach Phelan House, wobei sie den kürzesten Weg durch den Wald mit seinen knorrigen Eichen und wild gestikulierenden Buchen nahm. Die dunklen kahlen Äste wirkten wie mit Puderzucker bestäubt. Als die Sonne durch die Wolken lugte, brachte sie alles so zum Glitzern, dass es beinahe blendete. Beatrix’ feste Schuhe knarzten auf dem trockenen Laub und dem gefrorenen Moos.
Sie näherte sich Phelan House, ehedem eine königliche Jagdhütte. Es war ein großer, efeuberankter Bau inmitten von zehn Morgen bewaldetem Land. Sowie Beatrix die Einfahrt erreichte, lief sie auf den Eingang zu.
»Beatrix!«
Auf den Klang der leisen Stimme hin drehte Beatrix sich um und sah Audrey Phelan, die allein auf einer Steinbank saß.
»Oh, guten Tag!«, rief Beatrix fröhlich. »Ich habe dich seit Tagen nicht gesehen, also dachte ich, ich …« Sie verstummte, als sie ihre Freundin näher betrachtete.
Audrey trug ein schlichtes Tageskleid. Das Grau ihres Kleides verschmolz beinahe mit dem der Baumstämme hinter ihr. Sie war so still und reglos gewesen, dass Beatrix sie gar nicht bemerkt hatte.
Seit drei Jahren waren die beiden Freundinnen, seit Audrey John geheiratet und nach Stony Cross gezogen war. Beatrix hatte solche Freundinnen, mit denen sie unverfänglich plauderte – dazu zählte Prudence –, und jene, an die sie sich mit Sorgen wandte – das war Audrey.
Beatrix stutzte, weil Audrey so ungewöhnlich blass war, ihre Augen und ihre Nase hingegen ziemlich gerötet.
»Du trägst weder einen Umhang noch einen Schal.«
»Mir geht es gut«, murmelte Audrey, obwohl ihre Schultern bebten. Sie schüttelte den Kopf, als Beatrix ihren schweren Wollumhang abnahm und ihn ihr umlegen wollte. »Nein, Bea, nicht …«
»Mir ist warm vom Gehen«, sagte Beatrix. Sie setzte sich neben die Freundin auf die eiskalte Steinbank. Es verging eine Weile, und Beatrix sah, wie Audrey angestrengt schluckte. Furchtbares musste vorgefallen sein. Beatrix zwang sich, Geduld zu haben, doch vor Angst begann ihr Herz schneller zu schlagen. »Audrey«, fragte sie schließlich, »ist Captain Phelan etwas zugestoßen?«
Audrey sah sie mit einem Blick an, als würde Beatrix in einer fremden Sprache reden. »Captain Phelan«, wiederholte sie leise und schüttelte matt den Kopf. »Nein, soweit ich weiß, ist Christopher wohlauf. Erst gestern kamen mehrere Briefe von ihm. Einer ist für Prudence.«
Beatrix war schwindelig vor Erleichterung. »Ich kann ihn ihr bringen, falls es dir recht ist«, bot sie an und bemühte sich, möglichst gleichgültig zu klingen.
»Ja, das wäre eine Hilfe.« Audrey rang die blassen Hände in ihrem Schoß.
Vorsichtig streckte Beatrix eine Hand aus und legte sie über Audreys. »Ist der Husten deines Mannes schlimmer geworden?«
»Der Arzt war heute hier.« Sie holte tief Luft und flüsterte: »John hat die Schwindsucht.«
Beatrix drückte Audreys Hand.
Beide schwiegen, während der kalte Wind an den Bäumen rüttelte.
Eine solch maßlose Ungerechtigkeit war schwer zu begreifen. John Phelan war ein anständiger Mann, stets als Erster zur Stelle, wenn er hörte, dass jemand Hilfe brauchte. Er hatte die medizinische Behandlung einer Pächtersfrau bezahlt, die sich das Paar nicht leisten konnte, stellte das Piano in seinem Haus zur Verfügung, damit die hiesigen Kinder Musikunterricht bekamen, und hatte sich an den Baukosten für den Kuchen-Laden beteiligt, nachdem er beinahe vollständig niedergebrannt war. All das tat er mit größtmöglicher Diskretion, als wäre es ihm
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