Herzschlag der Nacht
Anwesenheit meiner Schwestern und mir.« Beatrix machte absichtlich eine kurze Pause, ehe sie mit einem Grinsen hinzufügte: »Und wir dürfen sogar Meinungen haben.«
Prudence riss die Augen weit auf. »Du liebe Güte! Na, ich sollte mich nicht wundern. Jeder weiß, dass deine Familie … anders ist.«
»Anders« war ein weit freundlicher Ausdruck als jene, mit denen die Hathaway-Familie gewöhnlich beschrieben wurde. Die Hathaways waren fünf Geschwister: auf Leo, den Ältesten, folgten Amelia, Winnifred, Poppy und Beatrix. Nach dem Tod ihrer Eltern hatte sich das Schicksal der Kinder auf verblüffende Weise gewandelt. Sie waren als Bürgerliche geboren, allerdings entfernt verwandt mit einem adligen Zweig der Familie, und infolge einer Reihe von unerwarteten Ereignissen hatte Leo einen Vicomte-Titel geerbt, auf den er und seine Schwestern nicht im Mindesten vorbereitet waren. Diese Erbschaft verschlug sie aus ihrem kleinen Dorf Primrose Place auf das Ramsay-Anwesen in der südlichen Grafschaft Hampshire.
In den vergangenen sechs Jahren lernten die Hathaways gerade genug, um sich in die gehobenen Kreise einzufügen. Doch gelang es bisher keinem von ihnen, wie der Adel zu denken, geschweige denn sich die Werte oder Manieren der Aristokratie anzueignen. Sie besaßen Vermögen, aber dies war nicht annähernd so wichtig wie Erziehung und Verbindungen. Und während eine andere Familie in vergleichbaren Umständen bestrebt wäre, ihren gesellschaftlichen Rang mittels Heirat zu verbessern, hatten sich die Hathaways, die bislang in den Ehestand getreten waren, jeweils für eine Liebesheirat entschieden.
Was Beatrix betraf, war fraglich, ob sie jemals heiraten würde. Man konnte sie bestenfalls als halb-zivilisiert bezeichnen, verbrachte sie doch den Großteil ihrer Zeit im Freien und streifte zu Pferd oder zu Fuß durch die Wälder, Marschen und Wiesen von Hampshire. Die Gesellschaft von Tieren war Beatrix allemal lieber als die von Menschen. Immerfort sammelte sie verletzte oder verwaiste Kreaturen auf und pflegte sie gesund oder zog sie groß. Diejenigen, die nicht allein in der Wildnis überleben könnten, behielt sie als Haustiere, und mit ihrer Hege beschäftigte Beatrix sich beinahe ausschließlich. So kam es, dass sich Beatrix in der Natur glücklich und erfüllt fühlte; wohingegen sie dem Leben in geschlossenen Räumen sehr wenig abgewinnen konnte.
In jüngster Zeit überkam Beatrix zusehends häufiger ein nagendes Gefühl der Unzufriedenheit, gleich einer unbenennbaren Sehnsucht. Das Problem war, dass Beatrix noch nie einem Mann begegnet war, der für sie in Betracht kam. Von den blassen, überheblichen jungen Herren, auf die sie in den Londoner Salons traf, fühlte sie sich eher abgestoßen, und auch wenn die robusteren Männer auf dem Lande schon eher ihren Vorstellungen entsprachen, fehlte ihnen schlicht das gewisse Etwas , nach dem Beatrix sich sehnte. Sie träumte von einem Mann, dessen Willenskraft ihrer eigenen ebenbürtig war, und sie wünschte sich, leidenschaftlich geliebt, herausgefordert und überwältigt zu werden.
Beatrix blickte auf den zusammengefalteten Brief in ihren Händen.
Nicht dass sie gegen Christopher Phelan eingenommen war; vielmehr schien er alles abzulehnen, was sie verkörperte. Gebildet und von privilegierter Geburt, wusste er sich mit einer Geschmeidigkeit in vornehmer Gesellschaft zu bewegen, die Beatrix vollkommen fremd war. Er war der zweite Sohn einer angesehenen hiesigen Familie, konnte einen Earl als Großvater mütterlicherseits vorweisen und väterlicherseits ein beträchtliches, durch Schifffahrt erworbenes Vermögen.
Die Phelans hatten keine Aussicht auf ein Titelerbe, aber immerhin würde John, der Älteste, nach dem Tod des Earls das Riverton-Anwesen in Warwickshire erben. John war ein ernster, nachdenklicher Mann und liebte seine Frau Audrey hingebungsvoll.
Der jüngere Bruder Christopher war von gänzlich anderem Charakter. Wie so oft bei zweiten Söhnen üblich, hatte Christopher sich mit zweiundzwanzig ein Offizierspatent gekauft. Zunächst diente er als Fahnenjunker der Kavallerie, was eine ideale Beschäftigung für solch einen formidablen jungen Burschen war. Seine Aufgabe bestand hauptsächlich darin, bei Paraden und Übungen die Regimentsfahne zu schwingen. Auch bei den Damen in den Londoner Salons erfreute Christopher sich größter Beliebtheit; dort nämlich hielt er sich fortwährend auf – häufig ohne beurlaubt zu sein – und verbrachte seine
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