Herzschlag der Nacht
peinlich, bei einer guten Tat ertappt zu werden. Warum musste jemand wie John so gestraft werden?
»Es ist kein Todesurteil«, sagte Beatrix. »Manche Leute überleben die Schwindsucht.«
»Einer von fünfen«, stimmte Audrey zu.
»Dein Mann ist jung und stark. Und jemand muss der eine von fünfen sein, also wird es gewiss John sein.«
Audrey nickte, sagte aber nichts.
Sie beide wussten, dass die Schwindsucht eine besonders tückische Erkrankung war. Sie führte zu schweren Schäden an der Lunge, dramatischem Gewichtsverlust und Ermattung. Das Schlimmste war der Husten, der beständig zunahm und blutiger wurde, bis die Lunge am Ende so voller Wasser und Blut war, dass der Kranke nicht mehr atmen konnte.
»Mein Schwager Cam weiß viel über Kräuter und Medizin«, sagte Beatrix. »Seine Großmutter war eine Heilerin.«
»Zigeunermedizin?«, fragte Audrey misstrauisch.
»Ihr müsst alles versuchen«, beharrte Beatrix. »Auch Zigeunermedizin. Die Roma leben in der Natur und wissen alles über deren Heilkräfte. Ich werde Cam bitten, ein Tonikum für Mr. Phelans Lunge zu mischen, und …«
»John würde es nicht nehmen«, fiel Audrey ihr ins Wort. »Und seine Mutter wäre dagegen. Die Phelans sind sehr konventionelle Menschen. Was nicht aus dem Glasfläschchen eines Arztes oder Apothekers kommt, heißen sie nicht gut.«
»Ich bringe euch dennoch etwas von Cam.«
Audrey legte den Kopf an Beatrix’ Schulter. »Du bist eine gute Freundin, Bea. In den kommenden Monaten werde ich dich brauchen.«
»Ich bin da.«
Noch eine Windböe blies über sie hinweg und zerrte an Beatrix’ Ärmeln. Audrey schüttelte sich, stand auf und gab Beatrix ihren Umhang zurück. »Gehen wir ins Haus, dann gebe ich dir den Brief für Pru.«
Im Haus war es anheimelnd warm. Die großen Zimmer hatten niedrige Holzdecken, und durch die hohen Kassettenfenster fiel fahles Winterlicht herein. Es schien, als wären sämtliche Kaminfeuer entzündet worden, denn sanfte Wärme durchströmte die aufgeräumten Zimmer. Alles im Haus war geschmackvoll und gedeckt, und das stattliche Mobiliar hatte ein Alter erreicht, in dem es gleichermaßen ehrwürdig wie bequem wirkte.
Ein scheues Hausmädchen kam und nahm Beatrix den Umhang ab.
»Wo ist deine Schwiegermutter?«, fragte Beatrix, als sie Audrey zur Treppe folgte.
»Sie hat sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Die Nachricht traf sie besonders hart.« Audrey verstummte kurz. »John ist von je her ihr Liebling.«
Das wusste Beatrix, ebenso wie ganz Stony Cross. Mrs. Phelan betete beide Söhne an, hatte sie doch nur noch die zwei, denn ihre anderen Kinder, ebenfalls Jungen, waren schon im Säuglingsalter gestorben und die einzige Tochter tot zur Welt gekommen. John jedoch war Mrs. Phelans ganzer Stolz. Folglich war in ihren Augen keine Frau gut genug für ihn. In den drei Jahren ihrer Ehe hatte Audrey reichlich Kritik von ihrer Schwiegermutter hinnehmen müssen, vor allem weil sie bislang keine Kinder bekommen hatte.
Beatrix und Audrey stiegen die Treppe hinauf, vorbei an Familienporträts in wuchtigen Goldrahmen. Zumeist waren es Beauchamps, vom adligen Zweig der Familie. Man kam nicht umhin zu bemerken, dass die Beauchamps außergewöhnlich schöne Menschen mit schmalen Nasen, leuchtenden Augen und dichtem, fließendem Haar waren.
Oben an der Treppe hörten sie gedämpftes Husten aus einem Zimmer weit hinten. Der raue, rasselnde Klang war beängstigend.
»Würdest du bitte einen Moment warten?«, fragte Audrey. »Ich muss zu John. Es ist Zeit für seine Medizin.«
»Ja, natürlich.«
»Christophers Zimmer – das, in dem er wohnt, wenn er zu Besuch ist – ist gleich dort. Ich habe den Brief auf die Kommode gelegt.«
»Ich hole ihn.«
Audrey ging zu ihrem Ehemann, während Beatrix in Christophers Zimmer trat, wobei sie zuerst vorsichtig durch die Tür lugte.
Drinnen war es halb dunkel. Beatrix zog einen der schweren Vorhänge auf, sodass Tageslicht hereinfiel und ein helles Viereck auf den Teppich malte. Der Brief lag auf der Kommode, wie Audrey gesagt hatte, und eilig griff Beatrix danach. Zu gern hätte sie das Siegel gleich hier aufgebrochen.
Doch das durfte sie nicht, also steckte sie den Umschlag in die Tasche ihres Kleids. Unschlüssig blieb sie vor der Kommode stehen und betrachtete die Sachen, die säuberlich auf einem Holztablett ausgelegt waren.
Ein Rasierpinsel mit silbernem Griff, ein klappbares Rasiermesser, eine leere Seifenschale sowie eine Porzellandose mit silbernem
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