Hesse-ABC
sie. In meinen
Dichtungen vermißt man häufig die übliche Achtung vor der Wirk-
lichkeit, und wenn ich male, dann haben die Bäume Gesichter,
und die Häuser lachen oder tanzen oder weinen, aber ob der
Baum ein Birnbaum oder eine Kastanie ist, das kann man mei-
stens nicht erkennen. Diesen Vorwurf muß man hinnehmen. Ich
gestehe, daß auch mein eigenes Leben mir sehr häufig genau wie
ein Märchen vorkommt, oft sehe und fühle ich die Außenwelt mit
meinem Innern in einem Zusammenhang und Einklang, den ich
magisch nennen muß.«
Darüber, was ihm Wirklichkeit ist, hat Hesse im ↑ » Kurgast« ge-
sprochen. Es ist nicht unsere verkünstlicht-kranke »Kurgast«-
Wirklichkeit. Der Kurgast Hesse, der an der so selbstgewissen
»Wirklichkeit« krank Gewordene, sieht als unentfremdete Wirk-
lichkeit allenfalls noch die Natur. Ansonsten findet er sie nur in
der Über- und Gegenwirklichkeit des Traums, der uns aus den
Verkehrtheiten unseres Daseins hinausträgt. Einem der notori-
schen »Wirklichkeitsmenschen« diktiert er, mitten im Speisesaal,
seine Definition der Unwirklichkeit ins Gesicht: »Sie existieren,
mein Herr, dies kann ich nicht bestreiten. Sie existieren aber auf
einer Ebene, welche einer zeitlich-räumlichen Wirklichkeit in mei-
nen Augen ermangelt. Sie existieren, möchte ich sagen, auf einer
Ebene des Papieres, des Geldes und Kredits, der Moral, der Geset-
ze, des Geistes, der Achtbarkeit, Sie sind ein Raum- und Zeitge-
nosse der Tugend, des kategorischen Imperativs und der Vernunft
und vielleicht sind Sie sogar mit dem Ding an sich oder mit dem
Kapitalismus verwandt. Aber Sie haben nicht die Wirklichkeit, die
mich bei jedem Stein oder Baum, bei jeder Kröte, bei jedem Vogel
unmittelbar überzeugt. Ich kann Sie, mein Herr, bis ins Unermes-
sene billigen, achten, ich kann sie anzweifeln oder gelten lassen,
aber es ist mir unmöglich, Sie zu erleben, es ist mir unmöglich,
Sie zu lieben. Sie teilen dieses Schicksal mit Ihren Verwandten
und werten Angehörigen, mit der Tugend, der Vernunft, dem ka-
tegorischen Imperativ und mit allen Idealen der Menschheit. Ihr
seid großartig. Wir sind stolz auf euch. Aber wirklich seid ihr
nicht.« Der Dichter mag Wirklichkeit nur leiden, wenn er sie selbst
hervorgeträumt hat, wenn sie ihm zur alle Eitelkeit des Verstandes
belehrenden Feier der Sinne wird. Wirklich ist ihm allein das poe-
tisch Verwandelte, von Interessen Befreite: »Ich habe während des
Mittagessens einige Wolken am Himmel ziehen sehen, und da ich
bisher der Meinung gewesen war, diese Wolken seien bloß aus
Papier und gehörten zur Saaldekoration, war ich nun sehr froh
über die Entdeckung, daß es richtige und wirkliche Luft und Wol-
ken waren. Sie sind vor meinen Augen davongeflogen, sie waren
nicht numeriert und an keiner hing ein Zettel mit dem Verkaufs-
preis. Sie können sich denken, wie froh ich darüber bin. Die Wirk-
lichkeit existiert noch, mitten in Baden! Es ist wunderbar!«
Wissen
»Wissen ist Tat. Wissen ist Erlebnis. Es beharrt nicht. Seine Dauer
heißt Augenblick.« Goethe spricht so, oder Nietzsche, oder ein
Mystiker, oder ein Anarchist – jedenfalls einer, der fremd ist in
deutsch-idealistischen Landen, wo alles Ewigkeitswert haben soll
und dabei nicht einmal den Augenblick zu bannen vermag. Hesse
sagt es dennoch.
Wolken
Über die Wolken bei Hesse – nicht sprachlich Wolkiges, sondern
die Beschreibung von Himmelsansichten –, hat Hugo Ball gesagt,
ließen sich ganze Abhandlungen schreiben, und sofort hinzuge-
fügt, das aber überließe er gern dem Philologenfleiß. Dem ist ei-
gentlich nichs weiter hinzuzufügen, außer einer jener wahrhaft
himmelsklaren Wolkenbeschreibungen aus dem ↑ » Peter Camen-
zind« (im Original seitenlang): »O die Wolken, die schönen, schwebenden, rastlosen! Ich war ein unwissendes Kind und liebte
sie, schaute sie an und wußte nicht, daß auch ich als eine Wolke
durch's Leben gehen würde – wandernd, überall fremd, schwe-
bend zwischen Zeit und Ewigkeit.« Eines hat die Jugend dem Alter
immerhin voraus: altklug-aufschneiderisches Pathos. Zum Glück
für uns besitzt Hesse ausreichend Witz, das Camenzind-Schiff mit
Pathos-Schlagseite vorm Kentern zu bewahren.
Wünsche
In einem namenlosen Fragment aus dem Nachlaß hat Hesse über
die Magie des Wünschens geschrieben – und wie man es sich vom
Leibe schafft. Ja soll man es denn? Das ist schwer zu sagen, denn
am Wünschen trägt
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