Hesse-ABC
Träumespender«. Je-
doch schränkt Hesse sogleich ein: »Aber er ist es nicht für jeder-
mann. Ihn künstlerisch und weise zu lieben und zu genießen und
seine schmeichlerische Sprache in ihrer ganzen Zartheit zu ver-
stehen, dazu muß einer so gut wie zu anderen Künsten von Natur
begabt sein, und auch dann noch bedarf er der Schulung und
wird, wo er nicht einer guten Tradition folgt, es selten zu einiger
Vollkommenheit bringen.« Zu dem 11000 m2 großen Grundstück
der Casa Rossa am Südhang des Luganer Sees gehörte auch ein
Weinberg. Am liebsten hätte Hesse ihn verpachtet, denn wer gern
Wein trinkt, muß noch lange nicht gleich selber Weinbauer wer-
den. Jährlich waren hier 700 kg Trauben zu ernten. Um den Wein-
berg nicht verkommen zu lassen, stellte der Dichter schließlich
einen Arbeiter an.
Weinstudien hat Hesse mit Eifer betrieben. Zur Erforschung der
Persönlichkeit schweizerischer Weine wollte er mit einem be-
freundeten Chemiker einen Wein-Baedeker herausbringen. Das
schreibt er 1905 in dem kleinen selbstironischen Text »Weinstudi-
en«. Zu diesem Zwecke forderten sie von allen Schweizer Weingü-
tern Proben an. Damit war dann der eigene Weinkeller für ein
halbes Jahr mit den denkbar besten Weinen gefüllt. Nur mit dem
Wein führer kam man bei all dem Weintrinken nicht recht voran.
Man konnte sich nicht auf objektive Kriterien einigen. Der Chemi-
ker sah Farben, wenn er trank: »Es gab Weine, die ihm den Ein-
druck von Rot, von Rosa, von Ultramarin, von Opalblau, von Grün
oder Gelb erweckten, bis in alle erdenklichen Nuancen von Lila,
Braun und Violett. An gewissen Lieblingsweinen, deren koloristi-
scher Eindruck ihm untrüglich feststand, besaß er eine zuverlässi-
ge Stimmgabel, so daß er jede Weinliste fehlerlos in Farben hätte
charakterisieren können. Aber wer sollte das verstehen? Das war
nicht schlechter und nicht besser als eine Spektralanalyse.« Bei
Hesse dagegen lösten die Weine zwar keine Farben, jedoch Erin-
nerungen aus. Er assoziiert bei einigen Weinen Kindheit, Gymna-
sial- oder Studienzeit, bei anderen Reisen, Freundschaften oder
Liebeserlebnisse. Für einen Wein-Baedeker wohl allzu vage Be-
wertungskriterien. Auch Hesses Idee, neben die chemische Analy-
se des Weins jeweils ein dessen Charakter ausdrückendes Gedicht
zu stellen, erwies sich als nicht praktikabel. Zudem war Hesse mit
dem Austrinken der Weine immer schneller als der Chemiker mit
seinen Analysen. Dann geht der Weinvorrat zu Ende. Ein Buch ist
nicht entstanden, aber an das regelmäßige Weintrinken hat man
sich gewöhnt. So sehr, daß der Chemiker wegen »verminderter
Brauchbarkeit« seine Arbeit verloren und Hesse seine teuren Erst-
ausgaben im Trinkerleichtsinn zu Wein gemacht habe. – Das ist
dann allerdings reine Dichter-Phantasie, denn wenn Hesse auch
gern und viel Wein trank, so war es doch allein die nüchterne
Schreibarbeit, die alles andere für ihn bestimmte, ihm schließlich
immer den größten, weil produktivsten Rausch bereitete.
Weltverbesserer
»Der Weltverbesserer« ist eine erstaunliche Abrechnung mit den
eigenen asketischen Anfechtungen seiner frühen Jahre, wo er sich
mit den Ideen von Naturisten, Tolstoianern, Veganern, Rohköst-
lern und anderen exemplarischen Sinnsuchern nicht nur intensiv
beschäftigte, sondern auch eine Zeitlang mit diesen
↑ » Sonnenbrüdern« lebte. Sc hnell jedoch wurde er desillusioniert.
Und über den Prozeß des gefährlichen, aber wohl – als Durch-
gangsphase – auch notwendigen Sichverlierens an eine Idee und
das heilsam ausgenüchterte (und gealterte) Wiederfinden schreibt
Hesse 1910 diesen auf bezaubernde Weise drastischen Text. Minu-
tiös schildert er die zum Selbstekel gesteigerte Zivilisationskritik,
den Willen anders, also auf unentfremdet- echte Weise in Einklang mit der Natur zu leben. Aber, so hat Hesse selbst erfahren müssen, ein Aus-der-Zivilisation-Aussteigen und simples Zur-Natur-
Zurückkehren im Sinne Rousseaus gibt es nicht, oder nur um den
Preis einer Entpersönlichung, einer desaströsen Rückverwandlung
von Kultur in – dann bestialische – Natur. Er selbst ist dieser Bert-
hold Reichardt, der sich auf dem Land ein kleines Gut kauft und
wie ein Bauer leben will. Er selbst bemerkt an sich, später als an-
dere, aber nicht zu spät, die Veränderung seines Wesens, eine
»Begeisterung, die keinen kleinsten Widerspruch ertragen konnte
und die fanatisierte Grobheit seiner
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