Hesse-ABC
neuen
Führer wollen, der sie wieder Gefolgschaft lehrt: »Sehet, Zarathu-
stra ist kein Lehrer, man kann ihn nicht fragen und von ihm lernen
und ihm gute kleine und große Rezepte für nötige Fälle nach-
schreiben. Zarathustra ist der Mensch, er ist Ich und Du ... Aber
nur eines hat er gelernt, nur eines ist seine Weisheit, nur eines ist
sein Stolz. Er hat gelernt Zarathustra zu sein. Das ist es, was auch
ihr von ihm lernen wollet, und wozu doch so oft euch der Mut ge-
bricht. Ihr sollet lernen, ihr selbst zu sein, so wie ich Zarathustra
zu sein gelernt habe. Ihr sollet verlernen, andere zu sein, gar
nichts zu sein, fremde Stimmen nachzuahmen und fremde Geister
für die euern zu halten.« In dieser wichtigen Schrift Hesses, in der
er gegen falsches Opferpathos und Untertanengeist anschreibt,
finden sich auch die beiden Abschnitte »Vom ↑ Deutschen« und
»Weltverbesserung«. Nur starke Individualitäten geben der Masse
ein Gesicht, nehmen ihr den blind-gewalttätigen Zug, den sie la-
tent in sich trägt. Ebenso wie allen Volksgemeinschaftsidealen
verweigert sich Hesse tumber Fortschrittsmechanik: »Ich weiß
nicht, ihr Freunde, ob die Welt je verbessert worden ist, ob sie
nicht immer und ewig gleich gut und gleich schlecht gewesen ist.
Ich weiß es nicht, ich bin kein Philosoph, ich habe nach dieser
Seite hin zu wenig Neugierde. Dies aber weiß ich: Wenn jemals
die Welt durch Menschen verbessert, durch Menschen reicher
geworden ist, so ist sie es nicht durch Verbesserer geworden,
sondern durch jene wahrhaft Selbstsüchtigen, zu welchen ich
auch euch so gerne zählen möchte. Jene ernstlich und wahrhaft
Selbstsüchtigen, welche kein Ziel kennen, welche keine Zwecke
haben, denen es genügt zu leben und sie selbst zu sein.«
Zauberer
»Kindheit des Zauberers« von 1926 liest sich wie ein zum Apho-
rismus zusammengezogener Marcel Proust: Auf der Suche nach
der verlorenen Zeit. Eine Expedition zum verlorenen Kontinent der
Kindheit, auf der sich der Dichter immer befindet. Der Dichter
träumt sich zurück an den Anfang. Dort ist seine Heimat. Aber so-
bald er diesen Traum aufzuschreiben begann, »war der Schrei-
bende enttäuscht von dem, was er auf seinem Papier las,
ernüchtert saß er vor dem, was er gestern abend mit einer gewis-
sen Freude und Begeisterung begonnen hatte, was gestern eine
Abendstunde lang wie Dichtung ausgesehen und sich nun über
Nacht doch eben wieder in Literatur verwandelt hatte, in leidiges
beschriebenes Papier, um das es eigentlich schade war«. Der
Dichter inmitten seines hochfliegenden Traums, über das Papier
gebeugt, schrumpft ein auf das Maß eines nüchternen Wortarbei-
ters. Der Berufene hat einen Beruf: Schriftsteller. Und wo bleibt
der Zauberer, der sich die Kindheit in die Tasche steckt und damit
auf und davon macht? Er wird zum »Totengräber«, der die »ge-
fundene Inschrift auf einem uralten Stein abzulesen versucht,
ausgehend von den wenigen noch erkennbaren Buchstaben oder
Bildzeichen, so suchte unser Mann seinen Traum zu lesen, indem
er Stückchen um Stückchen zusammensetzte«.
Was zu tun bleibt, ist nüchterne Spurenlese, Handwerk des Erin-
nerns. Buchstaben, Worte und Sätze so genau zusammenzusetzen,
daß sie selbst für andere zum Traumgrund werden, das ist das
Tagewerk eines Dichters, der mehr ist als ein an sich selbst be-
rauschter Dilettant. Hesse rückt hier den enttäuschenden Realisten
in sich an die erste Stelle. So wird er sich im zur gleichen Zeit ent-
stehenden ↑ » Steppenwolf« sel bst porträtieren: ironisch distanziert und zugleich surreal überhöht.
Der Traum trifft auf die Realität. In seiner Seele bleibt der Autor
hochgestimmt, »ein echter Dichter«, »ein Träumer, ein Seher« –
Nietzsches ewig spielen wollendes Kind im Manne. Beweisbar,
dem Leser als Text vermittelbar, wird dies nur, so sieht er jetzt
glasklar, indem »sein Handwerk aber das eines bloßen Literaten
bleiben müsse«.
Zivilisation
Ein Regelwerk, das die Menschen auf Distanz bringt – zu sich
selbst. Zur Natur. Ein Schutzraum, der Berechenbarkeit garantiert.
Die Bibel der Zivilisation ist das bürgerliche Gesetzbuch. Es si-
chert die Freiheit des einzelnen, die in der Gleichheit aller vor dem
Gesetz besteht. Der Vorzug der Zivilisation ist zugleich ihre größte
Schwäche: ihr formaler Charakter. Und gelegentlich benimmt sich
die zivilisierte Gesellschaft so urwüchsig, als sei sie im Dschungel.
Voltaires
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