Hesse-ABC
dem Blick nach Asien eine andere Perspektive auf
Klassik und Idealismus, und Nietzsche spitzte diese Perspektive so
radikal zu, daß das deutsch-pastoral-aufgeklärte Gemüt unter wü-
tendem Schmerz aufschrie. Hesse lebt die Utopie eines Aus-
gleichs, der durch radikale Entgegensetzungen hindurchgeht zu
einer Synthese von westlichem und östlichem Denken. Keine Fra-
ge bloßer Folklore, sondern eine des kollektiven Überlebens, wie
Hesse es 1955 ganz klar sieht: »Die ernsthafte und fruchtbare Ver-
ständigung zwischen Ost und West ist nicht nur auf politischem
und sozialem Gebiet die große, noch unerfüllte Forderung unserer
Zeit, sie ist eine Forderung und Lebensfrage auch auf dem Gebiet
des Geistes und der Lebenskultur. Es geht heute nicht mehr dar-
um, Japaner zum Christentum, Europäer zum Buddhismus oder
Taoismus zu bekehren. Wir sollen und wollen nicht bekehren und
bekehrt werden, sondern uns öffnen und weiten, wir erkennen
östliche und westliche Weisheit nicht mehr als feindlich sich be-
kämpfende Mächte, sondern als Pole, zwischen denen fruchtbares
Leben schwingt.«
Augen
Hesse der Augenmensch, der passionierte Beobachter noch der
minimalsten Unterschiede, ist auch ein an seinen Augen Leiden-
der. Wegen eines Augenleidens wird Hesse bereits 1900 vom Mili-
tärdienst zurückgestellt. »Beidseitiger Bügelmuskelkrampf, linkes
Auge geschwächt bei hochgradiger Kurzsichtigkeit«, lautet der
Befund. 1901 mißglückt eine Operation der ständig entzündeten
Tränenkanäle. So leidet er lebenslang unter schmerzenden Augen.
Mit immer neuen ↑ Brillen ver suchen die Ärzte Abhilfe zu schaffen.
Vergeblich, immer kürzer wird die Zeit, in der Hesse lesen und
schreiben kann. Gartenarbeit bekommt auch darum für ihn so
große Bedeutung.
Ruhe für die Augen!, lautet ein lebenslanges Gebot. Wann und
wieviel er täglich zu schreiben vermag, wird am Ende immer mehr
davon bestimmt, wie lange er die schmerzenden Augen erträgt.
1954 schreibt er darüber in seinen »Notizblättern zu Ostern«: »Ich
brauche, wenn die Schmerzen in Augen und Kopf zu lästig wer-
den, einen Wechsel, eine physische Umstellung. Die in langen
Jahren zu diesem Zweck erfundene gärtnerische und köhlerische
Scheinarbeit hat nicht nur dieser körperlichen Umstellung und
Entspannung zu dienen, sondern auch der Meditation, dem Fort-
spinnen von Phantasiefäden und der Konzentration von Seelen-
stimmungen.«
Ausländer, Ninon
↑ Dolbin
Außenseiter
Unter dem Titel »Porträt« hat Hesse 1902 sich selbst als unheilba-
ren Außenseiter erkannt. Was ihn auszeichnet, ist sein Anachro-
nismus: Er paßt nirgendwo rein, wirkt immer wie die Antithese zu
aller Umgebung: »Unter Philistern sah er provokant und fast wie
ein Wunderkind aus, unter bedeutenden Menschen fast albern. Er
schien unter jungen Leuten gesetzt und alt, unter Alten unfertig
und verlegen.« Keine schlechte Position für jemanden, der beo-
bachten will und Distanz braucht. Aber dennoch, es schmerzt,
wenn all die Kämpfe, die Siege und Niederlagen, so fern und un-
beteiligt vorbeigehen. Darum der Vorsatz: »Aber nächstens will
ich mich ernstlich mit der sogenannten Lebenskunst befassen.«
Das gelingt natürlich nur mangelhaft. Was in seiner Seele gut und
unbeschädigt war, so lesen wir, das verloderte alles in der hoff-
nungslosen Liebe zu einer schönen Frau. Aber, und das beweist
den Künstler noch in tiefsten seelischen Niederungen: »Zuweilen
auch beobachtete er sich selbst, erstaunt und mißtrauisch. In ei-
ner solchen Stunde schrieb er diese Zeilen nieder.«
Aussicht
Hesse in dem Notat »Abendwolken« (1926) über die Kunst des
Wohnens anhand seiner nobel-dekadenten Bleibe in der ↑ Casa
Camuzzi : »Es ist immer mein Stolz und meine Kunst gewesen, schön zu wohnen und eine ausgesucht schöne, weite Aussicht vor
meinen Fenstern zu haben; so schön wie hier ist kaum eine meiner
früheren Aussichten gewesen. Mag dafür der Kalk von den Wän-
den bröckeln, die Tapete in Fetzen hängen, mag es an vielen Be-
quemlichkeiten fehlen - dieser Aussicht wegen bleibe ich hier
wohnen.«
Autographen
Wie die ↑ Aquarelle sind diese zum einen Produkte seiner kunst-handwerklichen Leidenschaft, zum anderen jedoch eine dringend
benötigte Einnahmequelle. Hesse fertigte handgeschriebene und
bemalte Sonderausgaben seiner Texte auch auf Bestellung an.
Peter Suhrkamp notiert in einem Brief aus den fünfziger Jahren,
daß aus
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