Hesse-ABC
gesetzt) mit unerhörter Militanz herausge-
schrien wurde: »Es gab früher einen Antisemitismus, er war bie-
der und dumm, wie solche Antibewegungen eben zu sein pflegen,
und schadete nicht viel. Heute gibt es eine Art von Judenfresserei
unter der deutschen, übel mißgeleiteten Jugend, welche sehr viel
schadet, weil sie diese Jugend hindert, die Welt zu sehen wie sie
ist, und weil sie den Hang, für alle Mißstände einen Teufel zu fin-
den, der daran schuld sein muß, verhängnisvoll unterstützt. Man
mag die Juden lieben oder nicht, sie sind Menschen, häufig un-
endlich viel klügere, tatkräftigere und bessere Menschen als ihre
fanatischen Gegner. Man mag sie, wo man sie als schädlich emp-
findet, auch bekämpfen, wie man gelegentlich gegen Übel kämpft,
die man als notwendig kennt, die aber dennoch je und je zu erneu-
tem Anlauf reizen.
Daß man aber eine Menschenklasse schlechthin für das Übel in
der Welt und für die tausend schlimmen Sünden und Bequemhei-
ten des eigenen, deutschen Volkes als Sündenbock aufstellt, ist
eine Entartung so schlimmer Art, daß ihr Schaden allen Schaden,
der je durch Juden geschehen sein mag, zehnfach aufwiegt.« Man
bedenke an diesen Sätzen, daß sie mehr als ein Jahrzehnt vor den
Nürnberger Rassegesetzen, vor systematischer Diskriminierung
und schließlich vor der Ermordung der Juden geschrieben wur-
den. 1958 hat Hesse noch einmal sein »Wort über den Antisemi-
tismus« gesprochen. Nun vom Wissen über den Holocaust
beschwert. Der Haß gegen die Juden, schreibt Hesse, sei immer
ein verkleidetes Minderwertigkeitsgefühl. Darum mahnt Hesse die
Nachkriegsjugend: »Wer heute in Deutschland noch oder wieder
hitlersche und judenfeindliche Phrasen nachspricht und die Augen
vor dem so unheimlich folgerichtigen Ablauf der deutschen Ge-
schichte zwischen 1933 und 1945 verschließt, ist ein Feind seines
Vaterlandes. Und wenn einem von Euch Jungen das, was jeder
weiß, noch nicht genügt, und wenn ihm ein Verführer mit jenen
Lügenmärchen über jüdische Übeltaten kommt, dann denket dar-
an, daß das, was Deutsche den Juden angetan haben, leider kein
Lügenmärchen ist.«
Aquarell
Zu malen begonnen hat Hesse, als die Vereinsamung wuchs: im
ersten Weltkrieg. Im Tessin aber, seit 1919, explodierten die Far-
ben. Ein wenig auch unter dem Einfluß von Louis Moilliet ( ↑ Louis
der Grausame ), dem Schweizer Expressionisten. Vor allem aber entdeckt Hesse die Farben als neues Ausdrucksmittel. Die Überfül-le des Auges läßt sich nicht unmittelbar in Sprache übersetzen,
ins Bild vielleicht schon. Hesses Bilder (fast ausschließlich Aqua-
relle) sind ein Feuer der Sinne und doch auch Dokumente seines
Außenseitertums. Und natürlich seiner finanziellen Not. Denn die
Honorare aus Deutschland waren immer weniger wert, er mußte
sich eine neue Einkommensquelle schaffen. Und da war Hesse
immer schon erfinderisch. Seine erste Italienreise 1901 finanziert
er, indem der ebenso jugendliche wie mittellose Dichter eine
Liebhaberausgabe seiner Gedichte an ausgewählte Freunde ver-
kauft. Neigungen zum Gesamtkunstwerk besitzt er ohnehin. Also
schreibt er seine Gedichte mit der Hand, malt etwas dazu und ver-
kauft diese handgearbeiteten Text-Bild-Erzeugnisse an Sammler.
Nur so kann er die erste Zeit in der Schweiz überstehen. Aber für
Hesse ist es auch eine meditative, ihn zutiefst befriedigende, weil
nicht nur geistige, sondern auch sinnliche Tätigkeit. Bloßes
Schreiben ist nicht sinnlich. In Handarbeit Liebhaberausgaben
herstellen jedoch sehr wohl.
Für den Dichter ist Malen – neben dem Refugium der Farben – vor
allem eine Schule der Wahrnehmung, des präzisen Sehens: »Es
gibt jetzt für ein paar Stunden keine Bücher, kein Studierzimmer
mehr. Es gibt nur die Sonne und mich und diesen hellzarten, ap-
felgrün durchschimmernden Septembermorgen und das strahlen-
de Gelb im herbstlichen Laub der Maulbeerbäume und Reben. Ich
habe mein Malstühlchen in der Hand, das ist mein Zauberapparat
und Faustmantel, mit dessen Hilfe ich schon tausendmal Magie
getrieben und den Kampf mit der blöden Wirklichkeit gewonnen
habe.« Über den Wert, den Hesses Aquarelle über das Selbst-
Therapeutische hinausgehend besitzen, gehen die Meinungen
auseinander. Hesse selbst sieht sich hier als Dilettanten, der rein
aus Freude an Farben und Formen malt: »Ich habe in diesen Jah-
ren, seit ich mich mit dem Malen beschäftige, zur Literatur
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