Heute Und in Ewigkeit
hast dir nie angesehen, was du getan hast, Daddy.«
»Ich brauche sie auch nicht zu sehen, Baby. Ich lebe jeden einzelnen Tag mit dem, was ich getan habe.«
»Nein. Das tue ich.« Ich kniff die Augen zu, fest entschlossen, dass ich mir eher die Haut von den Armen kratzen als weinen würde. »Ich habe mich die ganze Zeit über gefühlt, als wäre ich mit dir im Gefängnis eingeschlossen. Wenn ich dich nicht besucht habe, habe ich daran gedacht, wie du da drin sitzt, oder ich habe mich vor den nächsten Besuchen gefürchtet, weil sie mir schreckliche Angst gemacht haben, oder ich habe mich so schuldig gefühlt, weil ich dich eigentlich gar nicht besuchen wollte, dass ich dir einen Brief schreiben musste. Und in der ganzen Zeit hast du mir nicht ein einziges Mal gesagt, dass es dir leidtut.«
»Wusstest du das denn nicht? Es tut mir sogar sehr leid, jeden Tag. Baby, ich war fast noch ein Kind, als das passiert ist.«
»Nein. Du warst achtundzwanzig. Ich war das Kind.«
»Was wollt ihr Mädchen von mir? Wie kann ich das wiedergutmachen? Wie bringe ich euch dazu zu verstehen, wie sehr ich euch beide brauche, wie sehr ich euch liebe? Ich will meine Familie zurück«, bettelte er. »Bitte, mein Schatz, du warst doch immer für mich da. Tu mir das jetzt nicht an.«
»Wann warst du denn für mich da?« Ich zog mir den Pulli wieder über die Schulter und beugte mich vor. Jeder Herzschlag dröhnte mir in den Ohren.
»Habe ich es nicht wenigstens versucht?«, entgegnete er. »Ich habe mich immer nach deinen Schularbeiten, deinen Freunden, deiner Karriere erkundigt – mich für alles interessiert, was du getan hast. Jedes Zeugnis, das du mir geschickt hast, und die vielen Zeichnungen, die Karten, die Gedichte. Ich habe dein ganzes Leben da drin.« Er zeigte auf die Tür zum Wohnzimmer.
Mein Vater ballte die zitternden Hände zu Fäusten und stützte den Kopf darauf. Ich fragte mich, ob Versuchen und Erkundigen zählte, aber ob es nun zählte oder nicht, sein Schmerz zerriss mir fast die Seele.
Mein Vater hatte recht: Er hatte mein ganzes Leben. Es gehörte ihm.
»Schon gut, Dad«, sagte ich. »Ist schon gut. Ich schlage nur vor, dass du mal darüber nachdenkst, damit du verstehst, warum wir das alles nicht so leicht vergessen können, wie du es gern hättest.«
Ich schmierte Käsecreme auf meinen zerfledderten Bagel, weil ich nicht wusste, was ich im Augenblick für meinen Vater tun könnte, außer den Bagel zu essen.
»Es ist alles da«, sagte er. »In meinem Schreibtisch. Jeder einzelne Brief, den du mir geschrieben hast. Willst du sie sehen?«
»Ehrlich, es ist schon gut, Dad.« Ich würgte ein Stück Bagel durch meine trockene Kehle in meinen verkrampften Magen hinunter. »Lass nur.« Bitte hör auf zu reden, bitte hör auf.
»Ihr haltet mich für ein Ungeheuer, aber das bin ich nicht. Verstehst du das? Es ist spät, aber ich kann euch immer noch helfen.«
Seine Augen waren meine.
Mein Vater war ein sehr schlichter Mensch. Er würde sich niemals weiterentwickeln. Ich konnte nur hoffen, dass ich lernen würde, ihn nicht übertrieben zu hassen oder zu sehr zu lieben. Ich musste meinen Vater einfach wieder nur lebensgroß machen.
Ich presste mir die Finger vor den Mund. Mein Vater hatte mir so vieles geraubt. Meine Mutter. Meine Familie. Ein Leben, das ich wollte, flimmerte in meiner fernen Vorstellung, aber als ich in seiner Wohnung saß, seine Augen anstarrte, meine Augen, da war ich weder feige noch mutig genug, um zu gehen. Eines Tages würden Lulus Töchter vielleicht ihren Großvater kennenlernen wollen, und selbst wenn meine Schwester es schaffen sollte, sie zu ihm zu bringen, würde sie für nichts Raum haben als für ihre eigene Wut.
»Das ist ein guter Bagel, Dad, der ›mit allem‹. Schmeckt mir.«
Er lächelte zittrig. »Du hast so einen noch nie gegessen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Der ist mir neu.« Noch eine kleine Lüge. Noch ein Geschenk für meinen Vater. Lulu würde mich vermutlich für schwach halten, aber für mich fühlte es sich richtig an, das zu tun.
Er streckte die Hand aus und nahm sich einen Bagel. »Dann probiere ich auch einen. Auf deine Empfehlung, Honeypop.«
Ein paar Monate später war ich nach New York gezogen. Park Slope, wo ich eine Wohnung gefunden hatte, kam mir vor wie Manhattan mit Ellenbogenfreiheit.
Brooklyn? , hatte Lulu gefragt. Du ziehst nach Brooklyn! Das hörte sich an, als seien wir einem kommunistischen Pogrom in Russland entkommen, um dann doch wieder
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