Heute Und in Ewigkeit
Dann können Lulu und ich bei dir wohnen.« Ich drückte ihre Hand, um ihr zu zeigen, wie lieb ich sie hatte und welch große Hilfe ich sein konnte. Merkst du, wie stark und zuverlässig ich bin?
»Hör auf. Jede Woche dieselbe Geschichte«, erwiderte Oma. »Sie erlauben mir nicht, euch bei mir aufzunehmen. Übrigens, deine neue Freundin Susannah sieht vielleicht aus wie ein Mädchen aus der Haarshampoo-Werbung, aber sie ist trotzdem ein verrückter Hippie.«
Oma nannte alle Hippies, die ihr missfielen, schon solange ich zurückdenken konnte. Oma mochte Susannah vielleicht nicht besonders, aber für mich war sie praktisch der netteste Mensch, der mir je begegnet war. Ich hatte sie im Gefängnis kennengelernt, wo sie jede Woche ihren Mann besuchte, und sie hatte nicht ein einziges Mal wissen wollen, warum Daddy da drin war. So nett war sie.
Ich fragte mich, was Mama von Susannah gehalten hätte. Susannah trug nie Make-up. Mama hatte apfelroten Schneewittchen-Lippenstift benutzt und perfekte schwarze Linien um ihre Augen gezogen. Eine graue Maus, so hätte Mama Susannah genannt. Ich erinnerte mich daran, dass Mama diesen Ausdruck sehr oft verwendet hatte. Lulu sagt, ich bildete mir alle meine Erinnerungen nur ein, aber das stimmt nicht. Ich erinnerte mich noch gut an früher, als ich klein gewesen war.
Die meisten Mütter, die keinen Lippenstift trugen, sahen krank aus, aber Susannah sah ohne Make-up genau richtig aus, wie eine Figur aus Unsere kleine Farm . Susannah gab mir Ratschläge über das Leben, während wir darauf warteten, dass die Besuchszeit anfing, vor allem, wenn Oma zur Toilette ging und Susannah und ich allein waren.
»Du könntest einen Sehtest machen«, schlug ich vor, wie Susannah es mir gesagt hatte. »Wir machen die auch in der Schule. Ich könnte ihn auswendig lernen und ihn dir beibringen, und dann würdest du den Sehtest bestehen. So könnten wir bei dir wohnen.«
Oma lachte. »Schätzchen, ich kann kaum noch richtig für mich selbst sorgen, von dir und Lulu ganz zu schweigen. Bald werde auch ich in ein Heim ziehen müssen. Wegen meinem Zucker und den Augen, und ich kann ja nicht einmal mehr gehen ohne meinen Stock. Versprich mir, dass du mich besuchen kommst, wenn ich in einem Heim wohne.«
Ich stieß beinahe auf die Knochen, so fest bohrte ich die Fingernägel in meine Handfläche – ein Trick gegen das Weinen, den Lulu mir beigebracht hatte. Wie sollten wir je aus dem Duffy rauskommen, wenn Oma auch ins Heim ging?
»Wenn Lulu und ich bei dir einziehen könnten, würden wir uns um dich kümmern, dann müsstest du gar nicht woanders hin.«
»Lass dir eines gesagt sein, Merry.« Meine Oma stieß einen ihrer abgrundtiefen Seufzer aus. »Werde ja nicht alt.«
Wir betraten den Woolworth, wo die Verkäuferinnen gerade ihre Kassen einschalteten und die langen Tresen aufräumten. Die Dame an der Süßigkeitentheke, die wie immer eine goldene Kätzchen-Brosche mit Diamantaugen trug, schenkte uns ein Lächeln so süß wie Geleebohnen. Ich fand es schön, dass sie sich anscheinend wirklich darauf freute, uns jede Woche wiederzusehen. Jeden Samstag kaufte Oma mir eine Tüte Süßigkeiten.
Ich griff nach einer bunten Brausekette, hielt die Hand zögernd über die pastellfarbenen Scheibchen auf der Gummischnur und bettelte stumm um Omas Zustimmung.
»Schön. Such dir deinen Schamass aus. Ich bezahle ja nicht deine Zahnarztrechnungen. Nimm auch etwas, das Lulu gern hätte.« Oma verschränkte die knochigen Finger und schnupperte an der Nascherei, die sie als Mist bezeichnet hatte. »Ich weiß nämlich mehr, als ihr beiden glaubt.«
»Vielleicht kommt Lulu ja nächstes Mal mit«, log ich. Meine Schwester hatte geschworen, dass sie Daddy nie im Leben wiedersehen würde, und wenn ich versuchte, sie umzustimmen, erinnerte sie mich immer daran, dass er unsere Mutter ermordet hat – sie spuckte mir beinahe ins Gesicht, wenn sie das sagte. Wie kannst du ihm auch nur in die Augen sehen? Wie hältst du es aus, dieselbe Luft zu atmen? Sieh doch nur, was er dir angetan hat.
Dann strich sie mit der Hand über meine Narbe. Mit dir stimmt doch was nicht. Warum gehst du überhaupt da hin?
Weil Oma es will.
Weil er mich braucht.
Weil … was würde er tun, wenn ich nicht hingehe, Lulu?
Ich wusste nicht, wie ich ihr das erklären sollte: Ich fürchtete, wenn ich nicht mehr hinginge, um ihn bei Laune zu halten, könnte alles noch schlimmer werden. Lulu schien sich um solche Dinge keine Gedanken zu
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