Hexenkind
das kannst du nicht machen, Pia!«
»Doch. Ich muss. Hier werde ich verrückt.«
Marcello spürte, dass ihm die Haut brannte. Er ahnte, dass es wenig Sinn hatte, aber versuchte weiterzukämpfen. »Ich habe mich bei dir entschuldigt, ich habe dich um Verzeihung gebeten, ich habe alles, was geschehen ist, bereut, ich habe dir geschworen, dass so etwas nie wieder vorkommt … Was soll ich denn noch tun? Pia, bitte, wir leben seit fünfundzwanzig Jahren zusammen, das kannst du doch nicht einfach so vom Tisch wischen …«
»Ich kann es nicht vergessen, Marcello. Ich komme nicht darüber hinweg.«
Er ging zu ihr und kniete sich vor sie. »Ich liebe dich, Pia. Bitte, hilf mir, alles wieder gutzumachen. Geh nicht. Bleib bei mir.«
»Ich liebe dich nicht mehr. Du hast es kaputtgemacht.«
»Wäre es besser gewesen, ich hätte es dir nie erzählt?«
»Vielleicht.«
»Ich dachte, es ist das Wichtigste, ehrlich zueinander zu sein.«
Pia seufzte. »Das stimmt nur bis zu einem gewissen Grad. Irgendwann ist die Verletzung so groß, dass man die Ehrlichkeit verfluchen könnte.«
»Ich kann nicht leben ohne dich.«
»Doch. Du wirst es lernen. Es ist alles nur eine Frage der Gewöhnung.«
In diesem Moment sehnte sich Marcello nach seiner Mutter, die bereits vor zehn Jahren gestorben war. Er wünschte sich, klein zu sein, sich in einem starken Arm ausweinen zu dürfen und darauf vertrauen zu können, dass alles gut werden, dass seine Mutter alle Probleme aus der Welt schaffen würde.
Er war jetzt vierundfünfzig Jahre alt und hatte sich noch nie ausgeweint.
»Du gehst nach Neapel, und wir sehen uns nie wieder?«
»Ich gehe nach Neapel, und wir sehen uns nie wieder«, bestätigte Pia.
»Ich kann nicht leben ohne dich, Pia. Du bist alles, was ich bin, und alles, was ich habe.«
Ganz kurz zögerte sie. Für den Bruchteil einer Sekunde durchfuhr sie der Gedanke, dass es stimmen könnte, was Marcello gesagt hatte. Er liebte sie wirklich. Sein Leben war sinnlos ohne sie an seiner Seite. Sie würde sich schuldig machen, wenn er sich etwas antat.
Aber wenig später schob sie diese Befürchtungen zur Seite. Ihr Entschluss stand fest. Ihre Kinder waren erwachsen,
ihr Mann hatte sie verraten und eine fremde Frau befriedigt, jetzt musste er mit der Assicurazione Vannozzi und der abendlichen Einsamkeit allein fertigwerden.
Sie war noch jung genug und wollte einen neuen Anfang wagen.
»Es waren schöne Jahre mit dir, Marcello. Ich denke gerne daran zurück, aber jetzt beginnt etwas Neues. Ich bin auf der Suche. Genau wie du. Und vielleicht hält das Leben ja doch noch eine Überraschung für mich bereit.«
»Ich bin nicht auf der Suche«, korrigierte Marcello und kam sich albern dabei vor.
»Aber du warst es. Ganz tief in deinem Inneren hast du es gewollt. Sonst wäre das alles nicht passiert.«
Pia hatte ihm schon immer in die Seele gucken können. Er hatte verloren.
»Lass uns morgen Früh weiterreden, Marcello. Ich bin jetzt todmüde. Und ich werde erst nächste Woche abreisen.«
Ohne ein weiteres Wort verließ Marcello das Zimmer und überlegte, ob er seinem Leben nicht noch in dieser Woche ein Ende bereiten sollte. Dann konnte Pia hierbleiben und musste nicht nach Neapel gehen. Neapel. In ganz Italien gab es kein gefährlicheres Pflaster.
89
Eine Woche später saß Marcello vollkommen entspannt unter der Markise der Bar della Piazza und trank bereits seinen dritten Caffè corretto. Er hatte die Beine übereinandergeschlagen und fand sich unwiderstehlich. Wenn jetzt eine Frau wie Sarah vorbeikäme – er würde nicht zögern. Er würde sich nicht anstellen wie ein Pennäler, sondern die Gelegenheit beim Schopfe packen und dafür sorgen, dass es nicht bei dem einen Mal bliebe. Von jetzt an gab es kein schlechtes Gewissen mehr, er würde jede Sekunde Leben auskosten, und ein Herzinfarkt wäre das Letzte, was ihm einen Strich durch die Rechnung machen könnte.
Pia hatte vor drei Tagen lediglich eine Tasche und einen Koffer in ihren Fiat geladen und war nach einer kurzen Umarmung abgefahren. Dass ihre beiden Töchter in Tränen aufgelöst waren, hatte sie nicht vom Aufbruch abgehalten, auch nicht die gaffenden Gesichter der Nachbarn hinter den Fenstern.
Er fühlte keinen Schmerz und keine Sehnsucht mehr, sondern nur noch wilden Zorn, und dieses Gefühl machte ihn stark.
Es war ein Fehler gewesen. Er hätte mit Sarah Simonetti eine Beziehung anfangen sollen. Was für ein Irrsinn, dies
alles nur ein einziges Mal erlebt
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