Hexenkind
zu.
»Das reicht«, meinte Raffaela.
Emilia nickte, klappte eine schwarze Schreibmappe auf und begann, einige Formulare auszufüllen. Enzo blickte von einem zum andern und wunderte sich, wie still es im Raum war und dass ihm keine Fragen mehr gestellt wurden. Deshalb fing er an zu erzählen. Er redete leise, und seine Stimme klang wie Musik, wie ein melodischer Sprechgesang.
»Es gibt nichts Schöneres als ein Feuer in der Nacht. Ein Feuer, das über den Hügeln lodert wie ein Leuchtturm überm Meer. Die Schafe werden geschlachtet und gehäutet und schmoren im Rauch. Und die Schäfer summen. Starren in die Glut und singen das Lied von den Partisanen, bis das Fleisch weich und knusprig ist. Rötlich braun mit dem Geruch von Rosmarin, Salbei und geronnenem Blut. Aber die Lämmer schreien, wenn ihre Mütter braten …«
»Es ist gut, Enzo«, zischte Teresa, »sei jetzt still.«
»Ich bin ein Junge aus Umbrien«, begann er erneut, aber Emilia unterbrach ihn, weil sie das Formular zu Ende ausgefüllt hatte.
»Sie müssen hier unterschreiben, Enzo«, meinte sie, lächelte freundlich, zeigte auf eine gepunktete Linie und hielt ihm den Stift hin. »Dann sind wir für heute fertig und lassen Sie auch mit unseren Fragen in Ruhe.«
Enzo nickte, nahm den Stift und schrieb »pastore« – Schäfer – anstelle seines Namens.
Raffaela und Emilia standen beinah gleichzeitig auf. »Kommen Sie mit, Enzo.«
»Wo gehen wir hin?«
»Nach Umbrien«, sagte Teresa schnell, und Enzo strahlte.
Das Heim in Arezzo, in dem Enzo von nun an untergebracht war, war voll von Debilen und geistig Verwirrten, Schizophrenen, Manisch-Depressiven, Psychopathen und Menschen wie Enzo, die ihre Traumwelt nie mehr verließen. Er teilte sich das Zimmer mit Luigi, einem Mann, der den ganzen Tag Karten legte und Schreikrämpfe bekam, wenn Pik-König und Pik-Dame aufeinanderfielen, was ständig vorkam. Dann nahm Enzo ihn in den Arm, wiegte ihn wie ein Kind und erzählte ihm von Umbrien, bis sein Freund sich beruhigt hatte.
Obwohl Luigi zwei Jahre älter als Enzo war, bezeichnete er ihn oft als »seinen Sohn«, was Luigi glücklich machte. Als Teresa ihn besuchte, sagte Enzo zu Luigi: »Mein Sohn, darf ich dir meine Mutter Teresa vorstellen …«, und Luigi verbeugte sich tief und voller Ehrfurcht.
Von diesem Tag an besuchte Teresa ihren Mann nie wieder.
90
So forsch und beschwingt war Donato Neri noch nie nach Hause gegangen. Er hatte seinen Wagen in Montevarchi am Kreisverkehr geparkt und beobachtete einen Moment gedankenverloren spielende Kinder auf einem Spielplatz. Dieser Platz war ihm bisher immer trostlos vorgekommen, heute erschien er ihm sonnig und freundlich. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie groß gewachsen die Bäume waren, wie hoch das Klettergerüst und wie zahlreich die Bänke.
Langsam schlenderte er in Richtung Via Roma. Diesen seltenen Zustand der absoluten Zufriedenheit wollte er in Ruhe auskosten und schauen, ob er vielleicht ein kleines Geschenk für Gabriella finden würde.
Mit klopfendem Herzen kaufte er sich eine Tageszeitung, obwohl er ganz genau wusste, dass noch nichts über ihn geschrieben sein konnte, schließlich war die Pressekonferenz erst vor einer Stunde zu Ende gegangen. Aber er tat es trotzdem, wollte sich vorstellen, wie sein Bild auf einer der ersten Seiten prangte, und wollte die Vorfreude genießen.
In der Via Roma grüßte er jeden, der zufällig in seine Richtung blickte. Bald werdet ihr mich alle kennen, dachte er, bald werdet ihr mich auf der Straße sehen und wissen:
Das ist der Kommissar, der diese fürchterlichen Morde im Wald geklärt und den Täter überführt hat. Und ihr werdet enttäuscht sein, dass ich eure Stadt wieder verlasse. Schade, werdet ihr denken, die Besten wandern immer ab und gehen nach Rom.
Er trank einen Espresso auf der Piazza, sah sich aufmerksam um, aber niemand nahm Notiz von ihm. Dann kaufte er eine Tüte Ricciarelli, Gabriellas Lieblingsgebäck, und außerdem einen billigen, knallroten Rosenkranz in einer Schachtel, auf die das Bild des winkenden Papstes gedruckt war. Dazu erstand er noch einen sündhaft teuren Bildband mit dem Titel »Rom – die ewige Stadt« und schrieb auf die Innenseite: »… wird bald wieder unsere Heimat sein, mein Schatz«. Gabriella würde schier verrückt werden vor Freude.
Sie saß vor dem Fernseher und erwartete ihn mit gebratenen Sardinen und einem gemischten Salat, als er kurz darauf die Küche betrat.
»Noch haben sie nichts über die
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