Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
Knie. Der Schmerz, der ihn völlig unerwartet überfallen hatte, musste ihn doppelt so schlimm treffen wie Joshua. Er wankte, stützte sich mit der Rechten auf dem Boden ab und presste die Linke gegen seine Seite. Dunkles Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch und tropfte zu Boden.
Es war ein sonderbares, fast unheimliches Gefühl, sich selbst zu betrachten, aus dem Körper eines Fremden heraus, der nun für acht unendliche Lebensspannen sein eigener sein würde. Er sah erst jetzt, wie schrecklich die Verletzung war, die Rowlf ihm zugefügt hatte. Es glich einem Wunder, dass er es überhaupt geschafft hatte, so lange am Leben zu bleiben und hierher zu gelangen. Vielleicht war es eines.
Auch Crowley blickte vollkommen fassungslos auf die Wunde in seiner Seite herab. Auf seinem Gesicht hatte sich Schmerz breit gemacht, aber darunter wuchs langsam ein viel schlimmeres, tiefer gehendes Gefühl heran – die Erkenntnis, dass er verloren hatte. Langsam hob er die Hand vor das Gesicht, betrachtete das Blut, das an seinen Fingern klebte, und sah dann wieder an seinem Körper herab.
Er versuchte noch einmal, auf Joshua zuzukriechen. Seine blutige Hand streckte sich aus, wollte nach Joshuas Beinen greifen und verfehlte sie. Mit einem erstickten Seufzer fiel er zu Boden und rollte auf den Rücken.
»Aber … warum?«, flüsterte er.
Joshua blickte ihn mitleidslos an. »Weil das, was geschehen ist, nicht wieder ungeschehen gemacht werden kann«, antwortete er. »Aber vielleicht kann man ihm eine andere Bedeutung geben.«
Natürlich hatte Crowley nicht verstanden, was er meinte. Vielleicht hatte er die Worte nicht einmal mehr gehört. Er war tot, als Joshua das nächste Mal auf ihn herabsah.
Joshua Craven, der von nun an den Namen Crowley tragen und sein Leben in jeder einzelnen Sekunde so leben würde, wie es diesem vorherbestimmt worden war, bis der Augenblick gekommen war, im Herzen der Schwarzen Pyramide in den Ablauf der Geschichte einzugreifen und – vielleicht – doch noch die Zukunft zu verändern, stand lange, sehr lange reglos da und blickte auf den Körper herab, in dem er die ersten dreiunddreißig Jahres seines Lebens verbracht hatte. Er empfand keine Zufriedenheit. Er hatte nicht das Gefühl ein Sieger zu sein, auch wenn ihm vielleicht etwas gelungen war, was noch niemand vor ihm vollbracht hatte: Er hatte nicht nur den Vampir und seine finsteren Herren, er hatte die Zeit besiegt. Alles, was er empfand, war Furcht. Furcht vor dem, was ihn erwartete.
Vierhundert Jahre.
Vierhundert Ewigkeiten, in denen er gezwungen sein würde, Crowleys Leben zu leben, das Leben zahlloser Unschuldiger zu nehmen, um bereit zu sein für jenen Augenblick in R’lyeh, in dem er Cthulhu von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, jenen winzigen Moment, in dem das Gefüge der Zeit verwundbar war.
Er wollte es nicht. Er wusste, auf welch schreckliche Weise sich Crowley ernährt hatte, und der Gedanke, dass auch er von nun an auf die gleiche, furchtbare Weise existieren musste, trieb ihn fast in den Wahnsinn. Er dachte an das kurze Gespräch mit Howard zurück, und an das, was er selbst sich gefragt hatte, während er mit Georges Maschine zurück in die Vergangenheit gereist war. Er hatte gewusst, dass er für das würde bezahlen müssen, was er getan hatte. Er hatte Leid über die Menschheit gebracht, unvorstellbares Leid und unvorstellbaren Schmerz, und vielleicht war das der wirkliche Grund, aus dem sich die Maschine geweigert hatte, an irgendeinem späteren Zeitpunkt anzuhalten, nicht die Gefahr, sich selbst oder einem seiner Vorfahren zu begegnen, wie George annahm. Diese vierhundert Jahre waren der Preis, den er bezahlen musste.
Nach einer Weile erwachte Joshua, der jetzt Crowley war, aus seiner Erstarrung, ließ sich neben dem toten Körper in die Hocke sinken und zog ein Messer aus dem Gürtel des Leichnams. Schnell und mit unbewegtem Gesicht machte er sich daran, die Patrone aus dem Leib herauszuschneiden, die Joshua getötet hatte. Dann stand er auf, drehte sich herum und verließ das Haus. Er musste zurück in den Wald, um Georges Apparat ein letztes Mal zu benutzen. Die Gefahr, dass er zufällig entdeckt wurde und jemand mit seiner Hilfe vielleicht den Lauf der Geschichte abermals veränderte, war zu groß. Er würde die Zeitmaschine so einstellen, dass sie weiter und weiter und immer weiter in die Vergangenheit der Erde reiste, bis sie auf eine Welt gelangt, auf der es noch kein Leben, keine Luft und kein Licht
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