Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
Vom Netzwerk:

    20:03 Piddybaby: Er hat aufgehört!!!!
    »Er raucht!!!!
    20:03 [ PRO ]holychristo: Wir rauchen! (Alle rauchen mit Till. Auch Karl steckt sich eine Zigarette an.)
    (Alle sind erleichtert; viele Küsse, viele holen sich einen runter; ein paar Schlägereien; ein kleiner Naziaufmarsch; die Hälfte ist bekifft; kaum einer hat vor rauszugehen.)
    20:07 [ PRO ]schnapsdrossel87: Schläft er?
    20:07 [ PRO ]holychristo: Im Stehen???
    20:07 [ PRO ]schnapsdrossel87: Er hat die Augen zu
    20:07 [ PRO ]affeohnewaffe: Betet er …?
    20:07 [ PRO ]holychristo: Ach was!!
    20:07 Piddybaby: Er raucht noch eine!!!
    (Alle rauchen noch eine; tussipussi ist schwanger, ihr Bruder war es; schnapsdrossel87 outet sich, sie hat ein erigiertes Glied; holychristo begeht Selbstmord, er wird heiliggesprochen.)
    20:12 [ PRO ]schnapsdrossel87: Ohhh, starrt er zu uns!!!!
    »Er hat uns entdeckt???!!!
    20:12 [ PRO ]affeohnewaffe: Er muss uns doch mögen …
    20:12 tussipussi: Ich liebe ihn!!!
    (Herzen ploppen aus 64 Augenpaaren; 12 holen sich einen runter.)
    20:12 [ PRO ]affeohnewaffe: Warum klebt er dann weiter … wenn er soooo geliebt wird …???
    (Vielen läuft eine Träne über die Wange.)
    20:12 [ PRO ]holychristo: Er will uns nur prüfen, wie lange wir durchhalten!!!
    20:12 [ PRO ]affeohnewaffe: er hat alles zugeklebt!!!
    20:12 [ PRO ]Vogel1: was soll denn aus den Vögeln werden??
    20:12 [ PRO ]schnapsdrossel87: und aus dem Tier erst!!
    (Hunderten läuft eine Träne über die Wange; Hunderte zünden eine Kerze in der Kirche an; zum ersten Mal seit langem verstummen die Stimmen.)

12
    Es ist ein glühend heißer, aber ein dunkler Sommer. Mit der Hand streiche ich durch die dickflüssige Luft, langsam dorthin, woher mein Atem kommt. Nur durch ihre Schwere spüre ich, dass ich noch da bin. Es ist so dunkel hier, mein Körper scheint gänzlich mit dem Raum verschmolzen. Außerhalb meines Zimmers gibt es nichts.
    Ich neige den Kopf nach vorne, dort müssten meine Beine sein. Sosehr ich mich auch anstrenge, die Umrisse treten nicht aus der Finsternis hervor, es ist, als hätten die alten Körperteile ihre Bedeutung verloren. Ich fühle mit der Hand das schweißnasse Knie, streiche über die Wade. Die Muskeln sind angespannt, heben sich deutlich vom Knochen ab. Schon lange trage ich keine Socken mehr, die Zehennägel stehen über, auf die Hornhaut bin ich mächtig stolz. Einzeln breche ich die Nägel ab, Knackgeräusche füllen den Raum aus. Ein Bild von früher taucht auf, wie Jan voraus durchs Gestrüpp prescht, in ausladenden Bewegungen das Geäst wegschlagend, ich damit beschäftigt, mein Gesicht vor den zurückschnellenden Ästen zu schützen. Das Knacken des Waldbodens unter unseren Schritten, die Haut mit Harz besprenkelt.
    Ich bin nicht allein. Die Dunkelheit ist bedeutungsvoll und bedrohlich zugleich. Aus ihr könnte alles hervortreten, in ihr könnte alles lauern, etwas, das scharfe Klauen und Zähne hat, das mir feindlich gesinnt ist, Hunger und Durst verspürt. In jeder Sekunde könnte es mich anfallen, erst wenn es an meiner Kehle säße, würde ich es bemerken. Ich strenge meine Ohren an, es ist zum Zerreißen still: Anna-Marie muss das Smartphone weggelegt haben, keine Mutterschritte vor der Tür, kein Vatergeklapper, kein Auto weit und breit – lediglich das monotone Tropfen des Schweißes auf den Boden. Tropfen, die vor meinen Füßen aufschlagen.
    Der letzte Zeitindikator.
    Durch die Dunkelheit taste ich mich zum Fenster vor. Dort bunkere ich sein Essen, und ich möchte mich mit ihm vertragen. Ich strecke meine Arme weit von mir, jede Richtung wird die richtige sein. In der Beschränktheit des Raums werde ich zwangsläufig irgendwann ans Fenster stoßen. Der verdunkelte Raum ist nun mein Gedankenraum. Ich werde mich in dieser Dunkelheit zurechtfinden müssen. Wie lange das weiter anhalten wird, kann ich nicht sagen.
    Zwischen Schreibtisch und Fenster stoße ich an den Rechner, gleite mit der Hand über das geriffelte, noch aufgeheizte Gehäuse und lasse den Bildschirm aufblitzen: Ich sehe eine Hausfassade, einen Erker – meinen Erker. Die Kamera ist so nah an die Scheiben herangezoomt, dass die einzelnen Paketbandstreifen zu erkennen sind. Die ganze Welt schaut zu. Ich könnte Botschaften in die Wand meines Kokons ritzen, alle würden sie lesen. Meine Verwandlung wird Tag und Nacht gestreamt. Dank ihm. Ich taste nach den Zigaretten. Wir rauchen. Karl und ich. Ich bin ihm nicht böse.
    Ein paar Seiten weiter schreibt Jan als

Weitere Kostenlose Bücher