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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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als wir als Gratisdreingabe einen dieser Handabroller entdeckten, mit dem sich die Paketbandschichten leicht auf die Scheibe auftragen ließen. Das Zimmer verdunkelte. Von unten nach oben, Reihe für Reihe brachte ich das Klebeband an. Als wäre mein Fenster ein Bildschirm und alles dahinter lediglich ein Bild, ein altbekannter Desktophintergrund, den ich spaltenweise ausradierte. Für mich, der ich seitdem in der Dunkelheit lebe, gibt es außerhalb nichts mehr. Auch meine Erinnerung daran verblasst. Man muss nur die Tür hinter sich zuziehen, und schon ist man auf der Schwelle zu einer anderen Welt. Zu der Welt, die man in sich trägt, die von der Außenwelt unterdrückt wurde, der man die Luft zum Atmen nahm.
    Den Sommer habe ich in der Dunkelheit verpasst. Jetzt läuft die Heizung auf Hochtouren, da die Außenwelt nicht mehr viel an Wärme hergibt. Das Tier versteckt sich immer seltener. Indem ich ihm Delikatessen vor den Dreckwäscheberg lege, versöhnen wir uns. Mutter ist sehr erfreut darüber, dass ich in letzter Zeit auf eine gesunde Ernährung achte. Statt das Licht anzuknipsen, schalte ich die Bildschirme an. Ich schreibe auf einen Zettel: Salat, Karo: Löwenzahn, Wicken, Breitwegerich, Erbsenblätter, Möhren (geraspelt) und Möhrenblätter. Eine ganze Kiste davon, bitte. Und in den nächsten Tagen noch: Zucchini, Rübenkraut, Hibiskusblätter, Kapuzinerkresse, etwas Dill, etwas Estragon, etwas Minze, eine gekochte Kartoffel. Und auf einem zweiten Zettel, den ich an den ersten tackere, füge ich hinzu: Ich habe einen unglaublichen Hunger – nicht wundern. Ich probiere all das durch, was mir früher nie geschmeckt hat. Dein Junge. Sie denkt, wenn sie meinen Körper gesundmästet, würde mein Geist langsam nachziehen, würde ich das Zimmer bald verlassen. Aber noch bin ich nicht so weit, noch habe ich keinen Grund zu sagen, dass es sich gelohnt hat.
    Ein Durchbruch! Das Tier ist zum ersten Mal auf meine Brust gekrabbelt. Es muss Hunger haben, denn es beginnt nach meinem Finger zu schnappen. Ich richte mich ruckartig von der Matratze auf, aber es schreckt nicht vor mir zurück, klettert sogleich, als ich mich wieder hinlege, auf mich. Nun hat es meinen Finger erwischt und kaut darauf herum. Wütend scharrt es mit den Krallen über den Boden, als wäre mein Zimmer nur eine größere Transportkiste, in die es aus seiner kleineren gesetzt wurde. Ich lasse es gewähren, da ich mich für seine Lage verantwortlich fühle. Es kaut liebevoll, wie ich finde, bis ich blute. Ich unterdrücke einen Schrei, trotz des Schmerzes, der in jeden Winkel meines Körpers fährt und die volle Aufmerksamkeit auf meinen Finger lenkt. Adrenalin pumpt durch die Nervenstränge und bewirkt, dass die Konturen des Zimmers schubweise aufflackern.
    »Alles okay da drinnen?«
    Vielleicht habe ich doch geschrien. Ich reibe mir die Augen. Ein lastendes Gewicht auf meiner Brust: der Leguan, wie er mit der langen rauen Zunge mein Gesicht schmirgelt. »Alles okay, Papa«, sage ich, ohne mir gewiss zu sein, dass der Klang bis zu ihm nach draußen dringt.
    »Das hört sich aber nicht so an«, sagt er. »Du tust dir doch nichts an?«
    Der Leguan raspelt weiter mit der Zunge über meinen Hals, immer über ein und dieselbe Partie.
    »Ich komm rein, wenn du nicht gleich aufhörst!«
    Es ist alles okay, will ich ihm sagen. Aber ich kann es nicht aussprechen, zu sehr nimmt mir das Tier alle Luft. Es geht mir blendend, will ich ihm versichern, er kann sich auf mich verlassen. Ich bin auf einem tollen Weg, ich bin voll und ganz dabei, mir eine Form zu verpassen, kantig zu werden, ganz wie er es für essenziell hält.
    »Was machst du da für Geräusche? Langsam ist der Spaß vorbei, Till!«
    Der Hals beginnt wie Feuer zu brennen, das Tier scheint ein Loch in meinen Hals bohren zu wollen, um meine Stimmbänder endgültig lahmzulegen. Ich will Vater sagen, wie froh ich bin, seine Stimme zu hören. Wie ich sie, wie ich ihn vermisse. Wie er sich durchs Haar fährt, am Tisch sitzt und sich Gurken in den Mund schiebt. Wie stolz er immer auf alles war, was ich gemacht habe. Wie er über die schulischen Disziplinarmaßnahmen immer nur geschmunzelt hat, wie er mir, wenn alle wegschauten, in die Rippen stieß und genüsslich den Kopf schüttelte. Dass ich das ja alles vergessen solle, dass Vergessen sowieso das Wichtigste sei.
    »T ill? Ich zähle bis drei! – Eins!«
    Mit der Hand schütze ich meinen Hals vor den Zungenschlägen des Tiers. Ich halte dagegen. Ich

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