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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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Müttern und ihren »Deutschland-Deutschland« skandierenden Vätern umher. Auf die erwärmte Fensterbank legte ich das Reptil, ich hatte Angst, es könne im nächsten Moment unter den Berührungen meiner Finger zu Staub zerfallen. Für viele Tage ließ ich es dort, der immer stärker werdenden Sonne ausgesetzt, während ich mich in den Ego-Shooter vertiefte. An der Wand machte ich den 500. Strich für den 500. Login. Girl No.1, Das Tapfere Sniperlein und ich trafen uns stündlich im Schatten der V2-Rakete , trainierten, wann immer uns nichts daran hinderte. Wir schlichen uns in die Server der gegnerischen Teams ein und studierten deren Bewegungsmuster. Wir entließen Freunde und Familie in ihre wohlverdienten Individualreisen. Wir bestellten uns vielfarbige Pizzen, handliche Sushi-Boxen, im Ausland abgepackte, nach Vaters Astronauten-Ernährungsplan zusammengestellte Vorratskisten. Wir ließen uns vom Getränkedienst beliefern, trugen den Bäckereien unserer Wahl allmorgendlich die Frühstückswünsche auf. Im Spiel selber vermieden wir alles Vorhersehbare, kein Schritt sollte dem vorigen gleichen. Wir besiegten Clan um Clan und rekrutierten den Nachwuchs. Wir lehrten sie, wie man auch ohne Kills gewinnen konnte, wie der Silent Shot funktionierte, wie Liebeskummer, wie die analoge Realität zu überwinden sei. Aber all das genügte nicht, so wenig wie wir fremdbestimmt werden wollen, so wenig wollen wir in fremdprogrammierten Computerspiel-Szenarien leben. Wir suchten nach Welten, die nicht von irgendjemandem, der uns nicht kannte, entwickelt wurden. Wir wollten selber zu Schöpfern unserer Welten werden! Wir hörten von einem Programm in Beta-Version namens Minecraft , das dem Spieler lediglich Bausteine zur Verfügung stellte, mit denen man alle nur erdenklichen Szenarien konstruieren könnte. Gleich bestellten wir das Programm: Sollte sich Minecraft als das Werkzeug erweisen, nach dem wir lange gesucht hatten? Bis es eintrifft, legen wir uns auf die Lauer, die Waffe im Anschlag. Das können wir stundenlang machen, dort im virtuellen Gras herumliegen. Bis wir aus Langeweile zu schwitzen beginnen, sich unsere Haare einfetten, bis wir spüren, wie dieser Zustand winzige Parasiten anlockt, die sich an uns heften, sich unter die Haut bohren und ihre Eier absetzen. Wir spielen, und in uns beginnen die Larven zu schlüpfen und alles aufzufressen, uns innerlich auszuhöhlen.
    Während wir warteten, vollzog das Tier das Wunder. Anfänglich behielt es die fahle Farbe, war in der Sonne sogar noch weiter ausgeblichen. Einige Tage später aber stellte ich bei Sonnenaufgang einen gelblichen Ton im Schuppenpanzer fest. Erst führte ich ihn auf das gebrochene Sonnenlicht zurück, als er im Tagesverlauf jedoch nicht zurückging, eher noch ins Orange kippte, wusste ich, dass eine Verwandlung stattfand. Sein wahrscheinliches Schicksal hätte das Tier in die Gefangenschaft eines lieblos montierten Terrariums geführt, permanent forschenden Instrumenten oder streichelnden Händen ausgesetzt. Doch hier in meinem Zimmer, hier auf dem Fenstersims hatte es die Möglichkeit, etwas anderes, etwas viel Größeres zu werden. So begann es, sich gemächlich von innen heraus zu transformieren. Es spielte alle erdenklichen Regenbogenfarben durch, bis es sein ursprüngliches Leguangrün zurückgewonnen hatte, endgültig den Tod überwand und zum ersten Mal bedeutungsschwer mit den Augen rollte.
    Ich nahm es vom Fenstersims und setzte es wie einen kostbaren Gewinn behutsam auf den Boden. Ein paar Tage saß es so da und glotzte aus dem Fenster. Es glotzte überallhin, nur dahin nicht, wo ich stand. Ich hatte wohl viel wiedergutzumachen. Die Sonne erreichte ihren Höhepunkt an Strahlkraft, die Menschenströme auf der Straße nahmen wegen der endenden Sommerferien wieder zu. Regelmäßig rauchte ich Zigaretten am offenen Fenster und präsentierte mich meinen Zuschauern in stoischer, unbewegter Pose, wie ein Feldherr, der über seine Garnisonen wacht. Karl war überaus umtriebig, hatte Wichtigeres zu tun, als mit seinem alten Freund am Fenster zu stehen. Ich war der Auslöser für seinen Tatendrang. Sein suchendes Auge, die Kamera hinter der Fensterscheibe, wurde die Brücke zur Außenwelt. Durch sie hindurch sehen sie mich. Der Leguan sah die im Sonnenlicht aufblitzende Linse zuerst. Wie ein SOS -Zeichen. Die Welt ist da, die Welt schaut zu.
    Mutter fragte nicht nach, als die Rollen Paketklebeband eintrafen. Das Tier war genauso verwundert wie ich,

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