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Hikikomori

Hikikomori

Titel: Hikikomori Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Kuhn
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Tee. Kim schöpft aus den zotteligen Ästen Papier. Tagelang ist das ihre einzige Beschäftigung. Sie ist sich wieder selbst genug, kann Stunden vor einem leeren Blatt Papier verbringen, scheinbar aus dem Nichts, aus sich heraus alles erschaffen. Das ist es, was in Zukunft zählen wird. Ich erzähle ihr Geschichten von dem, was alles sein kann, sie zeichnet mit aus Holz gewonnener Kohle die Gesichter zu diesen Geschichten, behängt unsere Wände mit ihren Porträts. Wenn ein Porträt einem Neuankömmling gefällt und es ihm zu mühsam ist, sich selbst ein Aussehen für sein neues Ich auszudenken, kann er die Vorlage als leere Hülle verwenden und langsam hineinwachsen.
    Wenn wir zum Fest den Berg hinuntersteigen, werden sie nicht mehr zu jubeln aufhören. Auch Das Tapfere Sniperlein wird das neidlos anerkennen. Bis dahin genießen wir auf dem Dach des Baumhauses jede Sekunde. Denn jährt sich die Existenz von Welt 0, werden sie mich nicht mehr brauchen. Dann ist das Projekt stabil genug für die nächsten Schritte, dann ist es Zeit für mich zu gehen. Ich halte sie fest von hinten umschlungen, ihre Brüste in meinen gewölbten Händen, ziehe sie eng an mich heran, küsse ihren Nacken, dass sich ihre Härchen erst elektrisch aufladen, dann meine Haut zu kitzeln, zu stechen beginnen. Ich habe eine vollkommene Gewissheit, dass wir da sind, eiskalte Schauer wallen durch unsere Nervenbahnen. Sie umfasst mein Glied, drückt es immer fester gegen ihren Po, bis sie ihr Bein leicht anhebt, mein Glied zwischen ihre Beine gleitet, ich von einem warmen Schauer umschlungen werde, ein Seufzer ganz tief aus ihr entweicht, sie mir ihr Gesicht zudreht, sich ihr Geruch über mich legt, ich ihren Hals küsse, während wir uns im Einklang vor und zurück bewegen, ein Druckgefühl, das auf mir lastet, sich in schauerartigen Schüben in ihren Schoß verlagert, ich mit meinen Zähnen ihr Ohrläppchen zu fassen bekomme, mein Atem tausendfach verstärkt durch ihre Ohrmuschel hindurch in ihr Innerstes vorstößt, bis sie sich über mich schwingt, beide Hände auf meine Brust legt, Halt findet, ihre Hüften kreisen lässt, über ihr die Sterne kurzschlussartig aufflackern, einen heiligen Moment ankündigen, wie ihre Augen glühen, wie sich mehr und mehr der Druck zu bündeln scheint, wie sie es ist, von der die Konzentrierung ausgeht, wie sie all den Druck in sich vereint – und ihn zerstreut. Und alles Licht erlischt.
    Dunkelheit. Strom ist unser Grundstoff. Die Server, die 0 tragen, fahren herunter, die Sonnenspots, das UV -Licht, die Mikrowelle, der Wasserkocher – alles ist ausgeschaltet, nur der faulige Geruch von Wachs und Erde und Bohnen hängt noch in der Luft. Strom ist unser Grundstoff. Die Temperatur fällt. Ein Zittern, das ich nicht kontrollieren kann, überkommt mich. Ich taste mich zum Computer vor, schlage mir irgendwo den Kopf an. Die Stand-by-Leuchte, die pulsiert, seitdem ich denken kann, ist nicht mehr zu entdecken. Ich bewege mich vorsichtig zum Lichtschalter, trete mit meinen nackten Füßen in die Schleimspuren, die überall sind. Immer wieder und wieder lege ich den Schalter um. Hunderte Male. Strom ist unser Grundstoff. Kein Licht, keine Sonnenspots, keine UV -Strahlung, keine Welt 0 – nichts springt an. Ich klopfe an die Tür. Ich rufe: »Macht den Strom wieder an!«
    Ich bin völlig außer Atem. Diesmal werde ich nicht sentimental.
    » MACHT DEN SCHEISSSTROM WIEDER AN !«
    Mein Kopf ist auf einmal viel zu schwer, um ein drittes, ein viertes, ein fünftes, ein sechstes, ein siebtes Mal zu schreien.
    Keine Antwort.

17
    Zimt. Der Weihnachtsbaum reicht bis knapp unter die Decke und ist mit goldenen Figuren, mit Sternen und einem Dutzend Kerzen geschmückt. Karola und Anna-Marie entzünden die Kerzen einzeln, Oskar, der sportlicher aussieht, seit er einige Kilos, besonders um den Bauch herum, abgenommen hat, trägt große Geschenke ins Wohnzimmer und platziert sie auf dem roten Tuch unter dem Christbaum. Der Kamin knistert, die Glocken läuten in der Ferne andächtig, der Plattenspieler gibt die warme Stimme einer Chansonsängerin wieder. Ein nussiger, mit Rotwein vermischter Bratengeruch liegt über allem.
    »Wollen wir dieses Jahr wieder singen?« Karola steigt auf einen Schemel, um an die höchste Kerze heranzukommen.
    Anna-Marie reicht ihr die Streichholzschachtel. »Muss nicht sein«, sagt sie.
    Karola streckt sich, zündet die Kerze an, dann steigt sie hinab, stemmt die Hände in die Hüften, schaut den Baum

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