Hikikomori
an. »Ja, der sieht ganz ordentlich aus.«
»Wir hätten öfter üben müssen, wenn der Clan weiter unter die Sänger gehen will.«
»Dann die Platte.« Seine Frau zwickt ihn in die Seite.
Unter dem Plattenspieler stöbert Oskar in einer metallenen Kiste, nimmt die Chansonplatte vom Plattenteller und legt The Wizard of Oz auf. »Es ist das vierte, nicht wahr?«
Mutter und Tochter nicken, schauen auf die gleichmäßig tänzelnden Kerzenlichter.
Beim Aufsetzen der Nadel knackt es einmal laut aus den Boxen. Oskar positioniert sich zwischen Karola und Anna-Marie – das Lied setzt ein, es ist Somewhere Over The Rainbow , gesungen von Judy Garland persönlich – und legt die Arme um die Hüften beider, während sie der Melodie lauschen.
Jeder nimmt seine Weihnachtsrolle ein: Anna-Marie ist die Ungeduldige, die es kaum erwarten kann, dass das Lied endet, mit Geschenken überhäuft zu werden. Oskar geht im Geiste noch einmal alle Geschenke durch, dass auch ja keines vergessen wurde, segnet das Resultat mit einem Nicken ab und setzt zur zweiten Strophe ein. Er hat eine erstaunlich tiefe und klare Stimme. Karola trägt ihre allweihnachtlichen roten Ballerinas, ein plüschiges Dreißigerjahre-Kleid, für die Dauer des Lieds ist sie kurz ein unbekümmertes Mädchen. Tills Rolle ist es traditionell, die Wünsche aller in sich zu bündeln. Er hätte der Schwester zugeblinzelt, Freude signalisiert, er hätte die Anzahl der Geschenke überprüft, hätte als Zeichen der Zustimmung in Oskars Gesang eingestimmt, Karola naiv dreinschauen lassen, sich blöde Kommentare verkniffen, eher noch ein Lob für ihre Ballerinas über die Lippen gebracht. Er hätte die Familie vollendet.
Doch jetzt nähert sich ein Till den dreien, der nur noch an das verblasste Bild seiner selbst erinnert. Er sieht um Jahre gealtert aus, sein Gang ist unsicher und schwankend, ab und an muss er sich an einem Möbelstück festhalten. Die Haare sind lang und von dicken filzigen Strähnen durchzogen, die Augen zu einem schmalen geröteten Schlitz verkümmert, die Wangen hohl und mit borstigem Flaum übersät, am Kinn hängt ein zotteliger Ziegenbart. Till trägt wieder den dicken Wollpullover, die Boxershorts ist fleckig, die Füße sind mit Lederlappen umwickelt. Anna-Marie hält sich die Nase zu. In Karolas Gesicht ist erst Entsetzen geschrieben, dann fängt sie sich, schaut die Tochter eindringlich an, bis diese die Nase loslässt, den Blick wieder zu den Geschenken richtet. Oskar hat kurz gestockt, dann wieder Luft geholt und lauter als zuvor das Lied gesungen. Während sich Till schleppend auf den Weihnachtsbaum zubewegt, dabei grünliche Schlieren auf dem Parkett hinterlässt, beteuert Judy Garland, wie all ihre Sorgen in einem fernen Land hinter den Wolken dahinschmelzen würden. Wie Zitronenbonbons. Till versucht, wie Oskar mitzusingen, nur ein blechernes Krächzen und Husten verlässt seine Kehle.
Das Lied verstummt, die Nadel wird angehoben, der Plattenspieler dreht im Leerlauf.
»Frohe Weihnachten!« Karola breitet die Arme aus, umarmt die Tochter.
»Frohe Weihnachten!« Karola und Anna-Marie halten sich für einen kurzen Moment in den Armen. Anna-Marie entwindet sich, umarmt Oskar, so dass sie über seine Schulter hinweg genau in Tills Augen schaut. Es ist, als schaue sie durch ihn hindurch, als entspringe er einer anderen Dimension, die zwar über der Familien-Dimension liegt, ohne aber dass zwischen den beiden eine Verbindung bestünde.
Oskar gibt seiner Frau einen Kuss auf die Wange, woraufhin sie sich den Geschenken zuwendet: »Was haben wir denn da für uns?«
Während die anderen unter dem Baum nach ihren Namen Ausschau halten, steht Till einen Meter von dem Weihnachtsbaum entfernt, in dem scheinbar vergeblichen Versuch erstarrt, Einlass in ihren Kreis zu finden. Er fährt sich durchs Haar. Schuppen gleiten wie Schneeflocken an seinem Gesichtsfeld vorbei. Er macht den Mund sichtlich unter Qualen auf und zu, lediglich ein heiseres Säuseln dringt aus ihm hervor. Es könnte genauso gut das Glucksen der Heizung sein.
»Wer fängt an?«
»Lass doch Anna-Marie«, sagt Oskar. »Andernfalls implodiert sie noch!« Anna-Marie holt ein aufwendig verpacktes Geschenk unter dem Tannenbaum hervor. »Das ist von mir«, sagt er stolz.
Die Tochter reißt die Verpackung auf. Zum Vorschein kommt ein eng geschnittener Wintermantel mit goldenen Manschettenknöpfen aus der Ann Christine Autumn Collection. Er erinnert vage an einen Matrosenanzug für
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