Hikikomori
Welt geschlagen. Das Kraftwerk ist nah der Küste ins Meer gesetzt worden. Ebbe und Flut treiben die Turbinen an, und da sich Sonne und Mond hier rasend schnell abwechseln, produzieren die Gezeiten Unmengen an Energie. Jeder Winkel unserer Welt ist nun mit Strom versorgt, das Blinken der Glühwürmchen ist längst nicht mehr wahrzunehmen, der Nachthimmel grell erleuchtet. Endlich kann auch das nachgebaute, dann eingestampfte, nun wiederaufgebaute Schulgebäude genutzt werden, indem per Stream Universitätsvorlesungen oder Unterrichtseinheiten in die Räume gesendet werden. Das Tapfere Sniperlein hatte mich dazu überredet, wenigstens eine Internetleitung auf meinen Brokkolibaum zu legen. Weil er neuerdings Girl No.1 mit mir teilt, wie es sich unter alten Freunden gehört, habe ich ihm brav zugestimmt.
Zum ersten Mal logge ich mich aus der neuen Welt 0 in die alte Welt ein. Viel gibt es nicht, was mich dort noch interessiert, was ich nicht bereits mehr als ebenbürtig in Welt 0 geschaffen habe. Außer Jan und Kim. Ich suche im Internet nach Jan. Jan wurde fleißig archiviert auf Hunderten von Fotos: Jan mit einem Sack voller Baumwolle im Arm. Jan mit einem Foster’s-Bier in der Hand. Jan mit einem Mädchen im Arm: Lockenkopf, Nasenring, Blumentattoo am Hals. Jan mit Didgeridoo. Jan vor einem roten Berg. Jan mit blanken Zähnen. Jan beim Rückwärtssalto. Jan ohne Kim. Jan mit stämmigem Mädchen an einer verlotterten Bushaltestelle. Jan mit länger werdenden Haaren. Jan mit Taschenlampe in einer Tropfsteinhöhle. Jan mit dem »Buddha Air«-Flugzeug im Rücken. Am liebsten würde ich ihm zurufen, er könne das alles auch in 0 haben, noch viel abwechslungsreicher, noch viel komprimierter, ohne Wartezeiten, ohne Kosten, ohne Anstrengung.
Aber nein, Jan hat mir ein Video gesendet, vor einem Berg stehend fuchtelt er mit den Armen, deutet auf etwas hoch oben. Der Rucksack auf seinem Rücken wippt bedrohlich, wenn er weiter so zappelt, wird es ihn noch umreißen. »Da geht’s hoch «, sagt er. Ich habe seine Stimme seit einer Ewigkeit nicht mehr gehört, bei dem Klang läuft es mir eiskalt den Rücken hinunter. Die Kamera – wer filmt da eigentlich? – schwenkt auf einen zerklüfteten Berg, der in dichte Wolken gewickelt ist. »Das ist das Chonggu-Kloster« , sagt er. Ich sehe überhaupt nichts außer einem verpixelten braunen Farbklecks am schroffen Massiv und denke, dass er sicherlich nicht wegen des Klosters, sondern zum Klettern dort unterkommt. »Da haben wir unser Zimmer, mitten in der Klosteranlage«, sagt er. »Wir haben für dich zusammengelegt«, sagt er . »Du kannst nachkommen« , sagt er und grinst. »Am Fuß des Xiannairi-Bergs ist noch Platz für dich!« , sagt er. »Du bist doch eh schon durchs Abi geklagt worden. Jetzt hast du Zeit, oder?«
Da ich nicht mehr rauche, laufe ich ersatzweise im großen Kreis um das Brokkolihaus herum. Ich stelle mir ein minimalistisch eingerichtetes Klosterzimmer am Fuße des heiligen Berges vor. Ich sehe die Menschen, Touristen, ich sehe Jan an einem kargen Holztisch sitzen, die Augen auf den Klostergarten gerichtet, die Steilwand dahinter. Vor sich ein aufgeschlagenes Buch, wahrscheinlich hat er sich fürs Wochenende ein Schweigegelöbnis auferlegt. Kein WLAN , kein nachzureichendes Immatrikulationsdokument, keine Weihnachtsjingles, Bekundungen, wie gut es tue, dem Ganzen zu entfliehen, Abstand zu haben. Er schaut auf die Tür. 72 Stunden Isolation plus Selbstfindung für 350 Dollar. Die Steilwand ist natürlich eine Kletterwand. Wie gerne hinge er da. Am Fuße des heiligen Berges, am Ende einer asphaltierten und neuerdings im GPS -Netz registrierten vierspurigen Autobahn.
Die Videobotschaft wird fortgesetzt: »Bis es losgeht« – was losgeht? – , »bist du doch frei« , sagt er und grinst, wie nur Jan grinsen kann. »Komm raus« , sagt er. »Du brauchst bloß einen Backpack«, sagt er, »und einen guten Reiseführer.« Bei Reiseführer denke ich unweigerlich an Schnitzeljagd. »Kim hat dir verziehen« , sagt er. »Kim wird schon am Fuß des heiligen Berges auf dich warten, wenn du ankommst«, sagt er. »Wir drei« , sagt er.
Ich brauche nicht lange darüber nachzudenken: Es kann nicht sein. Kim ist todsicher nicht bei ihm, Kim würde niemals bei so einem Selbstfindungstrip mitmachen. Kim wäre tausendmal lieber in Welt 0.
Anstatt mich um Welt 0 zu kümmern, anstatt einen Weg zu finden, diese meine Welt als die einzig wahre für Kim zu perfektionieren, musste ich
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