Hikikomori
habe was gehört.« Tatsächlich sind aus Tills Zimmer Geräusche vernehmbar, etwas fällt um, etwas wird in zwei Teile zerschnitten. Kim löst sich als Erste aus der Schreckstarre, ballt eine Faust und zieht den Jungen mit den roten Schuhen von der Tür weg. »Lasst ihn in Ruhe!« Der Junge ist so perplex, dass er sich erst gar nicht wehrt. Die anderen lachen wieder. »Und ihr – verschwindet!«
»Zick nicht rum«, sagt das Mädchen. »Wir wollen nur Spaß mit ihm haben! Und den Fernseher haben wir auch nicht kaputt gemacht, das war einer von unten, der sich rächen wollte – den haben sie abgeführt.«
Kim spricht klar und deutlich: »Das ist mir scheißegal – verpisst euch!«
»Fuck«, murmelt Jan apathisch, der sich noch keinen Zentimeter bewegt hat, während sich die anderen von der Tür entfernen, aber nicht das Zimmer verlassen, sondern aus dem Hintergrund das Geschehen betrachten. Das Mädchen hat ihr Smartphone gezückt und auf die Tür gerichtet.
Nach dem Geschrei ist wieder Stille eingetreten, als würde in der nächsten Sekunde eine Welle tosend und donnernd über ihnen zusammenbrechen. Auch auf der Straße ist es sonderbar still geworden.
»Ich schlag die Tür ein«, sagt Jan und ballt beide Fäuste.
»T ill, bist du da drin?« Kim legt ihre Hand auf die Tür.
»Ich schlag sie ein, ich schlag sie endlich ein!«
»T ill, wir sind es, hab keine Angst.« Kim tritt von der Schwelle weg.
Jan nimmt Anlauf und wirft sich mit seinem Körper gegen die Tür. Die Tür ächzt zwar, bricht aber nicht auf. In der gleichen Sekunde johlt und applaudiert die Menge auf der Straße dicht unter Tills Erker. Jan nimmt ein weiteres Mal Anlauf, auch diesmal gibt die Tür nicht nach. Die Lautstärke auf der Straße nimmt weiter zu, es ist ein seltsames Gemisch aus freudigen Rufen und erschrockenen Schreien. Beim dritten Versuch endlich wird die Tür aus der Verankerung gehoben und fällt krachend in das Zimmer hinein. Wie eine heruntergelassene Zugbrücke, die den Abgrund zwischen Außen- und Innenwelt überwindet. Ein großer Schwall an modriger und extrem heißer Luft strömt ihnen entgegen, als flute aus dem aufgebrochenen Zimmer Tills gesamte Atemluft der letzten Monate.
Im Zimmer ist es stockfinster, lediglich das flackernde Licht erhellt den Türbereich für einen Sekundenbruchteil, der Rest bleibt im Dunklen. Da taucht der Leguan auf, beinahe von der Tür erschlagen. Im kurzen Lichtschein schimmert er rot, von schwarzen Streifen wie in Stücke geschnitten. Sein Kopf liegt schwer auf den aufblitzenden Vorderpfoten, die wie in einem letzten Kraftakt erstarrt erscheinen. Kim übertritt die Schwelle als Erste, bückt sich zum Leguan. Da erkennt sie, dass ein Brief mit Klebeband an dem Körper des Tiers befestigt wurde. »Das Licht geht nicht an«, sagt Jan panisch, der um den Türrahmen herum nach dem Lichtschalter tastet. Am Rahmen sind Kratzspuren sichtbar. »Der Schalter ist abgeklebt.« Jan wischt sich über die schweißnasse Stirn, weil im Zimmer Saunatemperaturen herrschen, zückt sein Smartphone und benutzt das Display als Taschenlampe. »T ill, erschreck dich nicht!« Kim hat den Brief abgezogen und starrt in die Dunkelheit. »T ill?« Sie tastet sich ins Dunkle vor, stößt hier und da einen Gegenstand um. Jan leuchtet den Boden aus und bewegt sich vorsichtig vorwärts. Eine ganze Weile tasten sie sich langsam in die Tiefe des Raumes, bis schlagartig vom zugeklebten Fenster her ein schmaler Streifen Licht ins Zimmer fällt und eine Wand voller Essen, eine Wand voller Obst und Gemüse, eine Wand voller Sprudelkisten hell beleuchtet. Das Licht fällt so, als strahle ein Scheinwerfer direkt auf das verdunkelte Zimmer, und lässt den schmalen Spalt, der das Fenster senkrecht teilt, hell aufglühen. Kim und Jan stürzen über Gegenstände und Inschriften hinweg zum Fenster. Schritt für Schritt nimmt der Lärm auf der Straße zu, schlagen Pferdehufe lauter auf, preschen mehr Sirenen heran, grölt und schreit die Menge ekstatischer. Die Klebebandschichten am Fenster klaffen wie eine Wunde auf, die beiden greifen in den Spalt hinein und ziehen ihn rechts und links weiter auf, so dass größere Lichtbündel ins Zimmer fallen und sie nach draußen schauen können.
Durch den Spalt im Fenster strömt warme Luft hinaus und kalte hinein. Silvesterraketen steigen noch immer hinauf in den Himmel. Die Menschenmassen – zwischen ihnen Pferde und ein hupender Krankenwagen – wogen wie im Sturm hin und her. Der
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