Immer wieder Dezember: Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich (German Edition)
Prolog
Ein Schuss in den Mund, nicht weit von meiner Wohnung, in einem kleinen Park an verkehrsreicher Straße, an einem überaus grauen Dezembersonntag 2007, mitten in Berlin. Ein Mann tot auf einer Bank: Karlheinz Schädlich, der Bruder meines Vaters, unser Onkel. Ja, genau, der mit der Pfeife, die er immer bei sich trug, der aus Pfeifenreinigern Figuren bog, die wir Kinder uns ans Fenster stellten, der mit seinem Tabak den Duft der Ferne in die Wohnung ließ. Der voller Geschichten war und sich Zeit nahm und zuhörte, der ein offenes Ohr hatte, für uns. Und für viele andere. Dem ich vertraut habe, bis 1992.
Damals erreichte mich ein Anruf in Los Angeles. Es war der 29. Januar. Merkwürdig, dass ich das Datum so genau im Kopf habe, aber nicht die Stelle, an der ich mich befand, als das Telefon klingelte. Stand ich am Fenster der Küche mit atemberaubendem Blick über die Stadt? Abends war es. Der Anrufer war die Mutter, sie sagte: »Setz dich. Ich muss dir etwas sagen.«
Ich setzte mich. »Euer Onkel, der Bruder deines Vaters, mein Schwager, hat uns jahrelang ausspioniert. Sein Deckname war IM ›Schäfer‹.«
Ich glaube, ich sagte nichts. Die Mutter sagte: »Auch hinter der Sache mit dir hat er gesteckt.«
Ich glaube, als die Mutter mich informierte, habe ich geweint. Ich glaube, nachdem ich geweint habe, fragte ich, woher sie das wisse. Ob sie sicher sei. Sie war sicher, so sicher wie das Amen.
Danach habe ich nicht wieder mit ihm gesprochen. Ich habe versucht, ihn aus meinem Bewusstsein zu löschen. Ihn einfach vergessen, weil man vergessen wollte. Aber sosehr man sich auch anstrengte, es funktionierte nicht.
Und dann, ein Jahr vor dem Schuss, Zeitungsartikel, die über den Onkel berichteten. Obwohl wir das, was dort stand, seit langem wussten und weit mehr, war es ein Schrecken, denn jetzt war es öffentlich, für alle Welt zu lesen, wer er war.
Die Aufregung legte sich, zur Ruhe kamen wir nicht. Sechs Monate später schrieb der Onkel an den Vater. Sieben Zeilen nach fünfzehn Jahren Schweigen. Dass er bereue, was er ihm und seinen Nächsten angetan habe, dass er sich schäme. Für Angst und Feigheit, moralische und emotionale Deformierung und weil er mit den Feinden des Bruders konspiriert habe. Aber dann der letzte Satz: »Ich kann mir kaum verzeihen, weil ich alles verspielt habe, was es einmal gab.« Die Wörtchen »ich«, »mir«, »kaum«, das Wissen, dass der Onkel Variationen dieser Zeilen auch an andere geschickt hatte, rückten das Geschriebene in ein anderes Licht.
Am 8. Oktober rief der Onkel den Vater an, sagte, eigentlich wisse er nichts zu sagen, und legte auf.
Am 17. Dezember klingelte mein Handy. Es war 9.23 Uhr. Montag. Ich schaute auf die Uhr, weil ich gerade vor dem Kindergarten stand.
Der Vater: »Ich rufe dich an, weil ich dir etwas sagen muss, es ist etwas Schlimmes passiert. Kannst du jetzt reden?«
Ich sagte, ich riefe sofort zurück.
In Panik schob ich das Kind durch die Tür, dachte, der Schwester sei etwas zugestoßen, der Mutter.
Um 9.31 Uhr rief ich ihn an.
Der Vater: »Heute nacht gegen 2.00 Uhr klingelte die Polizei bei mir, um mir mitzuteilen, dass Karlheinz tot in einem Park aufgefunden wurde. Er hat sich erschossen.«
Ich wusste nichts zu sagen. Auf eine solche Nachricht finden sich nicht gleich Worte.
Der Vater: »Jetzt werde ich deine Schwester anrufen. Aber wie soll ich es ihr sagen?«
Ich sagte: »Nicht so wie mir, sag ihr gleich, was passiert ist.«
Was dann kam, war ein Spießrutenlauf. Anrufe bei der Mutter. Anrufe beim Vater. Er sollte Stellung nehmen.
Vor die Tür gingen wir nicht, wegen der Journalisten.
Am Dienstag waren die Zeitungen voll von dem lauten Tod.
Die Artikel rissen nicht ab. Und nicht nur das! Als Held kam er mir entgegen, mit Pfeife, lächelnd, sympathisch. Der »Gentleman IM« mit den »schlanken Händen eines Pianisten«, der »Tweedjackets liebte«, schrieben sie da, und viele, die es lasen, werden es geglaubt haben. »Ein Schöngeist, hochkultiviert, ein interessanter Gesprächspartner, der sich mit Literatur und Wissenschaft beschäftigte, stets hochdeutsch sprach und sich gewählt ausdrückte. Einer, der Freiräume brauchte und viel Luft zum Atmen.« Uns hat der Onkel die Luft geraubt. Die Harris-Tweed-Jacketts waren sein Schafspelz.
Es gibt kein Ende, das weiß ich jetzt. Nicht in dieser Angelegenheit. Nicht in dieser Zeit. Und noch etwas: Dieser Tod macht nichts ungeschehen. Deshalb werde ich darüber schreiben,
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