Das Licht der Phantasie
D ie Sonne ging zögernd auf, als wüßte sie nicht so recht, ob es die Mühe lohne.
Ein neuer Scheibenwelttag dämmerte, aber nur sehr langsam. Und zwar aus folgendem Grund:
Wenn Licht auf ein starkes magisches Feld trifft, vergißt es plötzlich, was Eile bedeutet. Es wird geradezu träge. Und auf der Scheibenwelt war die Magie besonders stark ausgeprägt. Deshalb glitt das mattgelbe Glühen der Dämmerung wie eine sanfte, liebkosende Hand über die schlafende Landschaft – goldenem Sirup gleich, wie manche Leute meinen. Es hielt inne, um Täler zu füllen. Es kroch müde an Berghängen empor. Als es Cori Celesti erreichte, das zehn Meilen hohe Massiv aus grauem Fels und grünem Eis in der Scheibenmitte, türmte es sich zu großen Haufen auf, um jenseits des Gipfels mit der eher bescheidenen Wucht einer ins Alter gekommenen Lawine durch die dunkle Landschaft zu rollen.
Ein solcher Anblick bot sich auf keiner anderen Welt dar. Natürlich gab es auch keine andere Welt, die auf den Rücken von vier Elefanten ruhte, die ihrerseits auf dem Panzer einer riesigen, durchs Universum spazierenden Schildkröte standen. Ihr Name – oder seiner, wie manche Philosophen behaupteten – lautete Groß-A'Tuin. Sie – oder er, wie auch immer – spielt keine große Rolle in der folgenden Geschichte. Doch um die Scheibenwelt richtig zu verstehen, muß man wissen, daß es sie – oder ihn – gibt, unter den Bergwerken, Meeresquellen und angeblich fossilen Knochen, die vom Schöpfer nur deshalb zurückgelassen wurden, um Archäologen zu verwirren und ihnen Flausen in den Kopf zu setzen.
Groß-A'Tuin, die Sternen-Schildkröte: gefrorenes Methan auf dem Panzer, pockennarbig von Meteoritenkratern, bedeckt von einer Patina Asteroidenstaub. Groß-A'Tuin: Augen wie unauslotbar tiefe Seen, das Gehirn so groß wie ein Kontinent, die Gedanken gemächlich vorrückende Gletscher. Groß-A'Tuin: Das Glimmen der Sonnen und Galaxien spiegelt sich auf ihrem gewaltigen Leib wider, während sie durch die galaktische Nacht wandert und die Scheibenwelt mit sich trägt. Größer als alles, was man sich vorstellen kann. So alt wie die Zeit selbst. So geduldig wie ein Fels.
Einige Gelehrte glauben, Groß-A'Tuin führe kein besonders beneidenswertes Leben. Nun, sie irren sich, das Gegenteil trifft zu: GroßA'Tuin vergnügt sich prächtig.
Sie – oder er – ist das einzige Geschöpf im ganzen Universum, das genau weiß, welches Ziel es anstrebt.
Natürlich haben die Philosophen viele Jahre lang darüber diskutiert, wohin Groß-A'Tuin unterwegs sei, und ihre größte Sorge besteht darin, es möglicherweise nie zu erfahren.
In zwei Monaten werden sie eine Antwort auf ihre Frage bekommen. Und dann haben sie wirklich Grund, sich Sorgen zu machen…
Einige der phantasievolleren Gelehrten grübeln auch noch über ein anderes Problem und betreiben langwierige Forschungen mit dem Ziel, Groß-A'Tuins Geschlecht herauszufinden. Sie verwenden ziemlich viel Zeit und Mühe darauf, diesen Punkt ein für allemal zu klären.
Der neueste in diesem Zusammenhang unternommene Versuch kommt gerade in Sicht, während Groß-A'Tuin wie eine riesige Haarbürste aus Schildplatt durch die Unendlichkeit marschiert.
D ie bronzene Kapsel des Mächtigen Reisenden ist völlig außer Kontrolle geraten und fällt an der Schildkröte vorbei. Es handelt sich um eine Art steinzeitliches Raumschiff, von den Priesterastronomen Krulls erbaut und über die Kante der Scheibenwelt gestoßen – was der landläufigen Meinung widerspricht, es gebe kein Reiseunternehmen, das gratis arbeitet.
Im Innern der Kapsel sitzt Zweiblum, der erste Tourist der Scheibenwelt. Er hat einige aufregende Monate damit verbracht, sie zu erforschen, und jetzt verläßt er sie recht überstürzt. Die Gründe dafür sind kompliziert, haben jedoch mit dem Versuch zu tun, aus Krull zu fliehen.
Ein Versuch, so sei hinzugefügt, der tausendprozentig erfolgreich war.
Obwohl alles darauf hindeutet, daß Zweiblum auch der letzte Tourist der Scheibenwelt sein wird, genießt er die Aussicht. Zwei Meilen über ihm stürzt der Zauberer Rincewind durchs Nichts, gekleidet in etwas, das auf der Scheibenwelt als Raumanzug gelten mag. Man stelle sich ihn als Taucheranzug vor – von jemandem entwickelt, der nie das Meer gesehen hat. Vor sechs Monaten war Rincewind ein ganz normaler gescheiterter Magier. Dann begegnete er Zweiblum, der ihn mit einem enormen Gehalt in seine Dienst lockte und zum Reiseführer ernannte.
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