Himmel über dem Kilimandscharo
die Sonne unterging, schienen vor dem roten Himmel Schattengestalten zu tanzen– Menschen, Bäume, Giraffen, wirbelnde Antilopen, schwarze Masken mit weiten, grinsenden Mäulern. Sie taumelte und fand Halt an Georges Schulter, der rasch herbeigesprungen war, um sie mit seinem Körper zu stützen.
» Es kann nicht mehr weit sein«, flüsterte er. » Sonst hätten sie längst ein Nachtlager aufgeschlagen. Nur noch ein paar Schritte, Charlotte. Du schaffst es.«
Jetzt endlich hatten ihre Bewacher ein Einsehen. Sie lösten den Strick um ihre Handgelenke, befreiten sie auch von der Schlinge um den Hals und gaben ihr eine Kalebasse, die sie mit ihren tauben Händen kaum festhalten und zum Mund führen konnte. Das Wasser war schlammig und warm, doch sie trank gierig. Wahrscheinlich würde sie krank davon werden, doch das war besser, als zu verdursten.
George hatte recht gehabt. Nach kurzem Weitermarsch rochen sie den Rauch der Feuerstellen, Frauen und Kinder liefen ihnen entgegen, redeten durcheinander, stießen schrille, trillernde Laute aus, befühlten die Lasten, die die Männer heimschleppten, und besahen scheu die beiden Gefangenen. Die letzte Wegstrecke glich einem Triumphzug siegreicher Kämpfer, die ihre Beute und die gefangenen Feinde dem staunenden Volk präsentierten– und ganz sicher war es das auch.
Ein Tamarindenbaum stand im Zentrum des Dorfes, im letzten Abendrot erschien er Charlotte wie ein bizarrer, düsterer Riese, der aus einem wulstigen, in sich verdrehten Stamm herauswuchs. Unter seinen Ästen mit dem fiedrigen Blattwerk saßen zwei Greise und starrten neugierig auf die ankommenden Krieger, sie waren nackt bis auf einige Fetzen um ihre Lenden.
Jetzt drängten sich Halbwüchsige und Kinder um die beiden Gefangenen, zupften sie am Haar, rissen an ihren Kleidern, lachten, fragten, betasteten sie ungeniert, während die Frauen sich um Töpfe, Kleider und Geschirr aus dem Missionshaus zankten. Charlotte stand wie versteinert da und wusste plötzlich nicht mehr, was sie von alldem halten sollte. Sie waren Beute, ebenso wie die Töpfe und das geschlachtete Vieh, das jetzt von einigen Frauen gehäutet und gerupft wurde. Immer noch hatte sie das Gefühl, in einem grausigen Traum gefangen zu sein.
Doch der Irrsinn setzte sich fort. Mehrere Krieger jagten die Kinder davon und zerrten die beiden Weißen vom Dorfplatz in eine abseits stehende Hütte, die ganz offensichtlich nicht mehr bewohnt wurde. Trockene Zweige wurden von außen vor den Eingang gestellt und verflochten wie Gitterstäbe. Dann entfernten sich die Männer, und sie blieben allein zurück.
Es war fast dunkel, durch die Zweige vor der Türöffnung drang der schwache Schein einiger Feuer, die man entzündet hatte, um das Festmahl zuzubereiten. Stimmengewirr war zu hören, Äste wurden zerbrochen, um die Feuer zu nähren, hin und wieder huschte eine Frau oder ein Kind an der Hütte vorüber, versuchte, zu ihnen hineinzuschauen, doch im Dunkel des runden Innenraums konnten sie die Gefangenen nur als Schatten erkennen.
George durchmaß mit langsamen Schritten die Hütte, und Charlotte begriff schaudernd, dass er sie nach Schlangen absuchte, die sich gern in verlassenen Behausungen aufhielten. Als er sich schließlich setzte, ließ sie sich erschöpft neben ihm nieder.
» Kannst du mir die Hände freimachen?«
» Ich versuche es.«
Die Stricke waren aus Hanf gedreht und fest angezogen, und sie brach sich fast die Finger, um die Knoten zu lösen. Als es ihr endlich gelang, nahm George die Arme langsam nach vorn und rieb sich die tauben Hände.
» Sie werden ganz sicher nach uns sehen«, flüsterte Charlotte.
» Möglich. Aber ich vermute eher, dass sie jetzt mit ihrer Mahlzeit beschäftigt sind. Und später werden sie feiern.«
Sie wagte es nicht, sich in der dunklen Hütte auf dem Boden auszustrecken, stattdessen kauerte sie sich zusammen und umschloss die angezogenen Knie mit den Armen.
» Was sollen wir tun, George?«
» Warten.«
» Bis sie uns töten? Oder verstümmeln? Wie kannst du so gelassen sein?«
» Scht …«, machte er leise und legte seinen Arm um ihre Schultern. » Ich bin keineswegs gelassen, Charlotte. Aber wir müssen versuchen, ruhig zu bleiben und unseren Verstand zu benutzen.«
» Ja…«, murmelte sie.
Es war gut, seine Nähe zu spüren, seinen Arm, der sie jetzt näher zu sich heranzog, seine unrasierte Wange, die an ihrer Schläfe kratzte.
» Es ist mir nicht ganz klar, was sie vorhaben«, flüsterte er. »
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