Himmel ueber fremdem Land
sie mit verschwörerischer Stimme fortfuhr: »Ich habe dem Wachtmeister nicht ganz die Wahrheit gesagt!«
»Lina! Aber aus welchem Grund denn?« Entsetzt richtete Margarete sich auf, während Demy mit gerümpfter Nase und nachdenklich zusammengekniffenen Augen zum Fenster ging und hinaussah.
»Kanntest du den Mann, der dich angegriffen hat?«, fragte sie die Freundin.
»Nein. Und es handelte sich nicht um einen Mann, das ist ja mein Problem.«
»Eine Frau hat dich überfallen? Wollte sie dein Geld und deinen Schmuck an sich nehmen?«
»Auch keine Frau«, seufzte Lina und richtete sich in ihren Kissen auf. »Es war ein Kind, ein kleiner Bursche von vielleicht acht, neun Jahren.«
Demy starrte ihre verletzte Freundin mit dem Kopfverband und den Abschürfungen im Gesicht ungläubig an. »Ein Kind hat dich so zugerichtet?«
»Darf ich einfach erzählen, was passiert ist? Vermutlich versteht ihr mich dann besser, vor allem auch meine Handlungsweise dem Wachtmeister gegenüber.«
Margarete nickte, wobei sie noch immer Linas Hand umklammert hielt, während Demy wieder zum Fenster hinaussah. Ihr Bruder Feddo war fast acht Jahre alt. Er war ein Lausbub, gelegentlich auch wild, dennoch würde sie ihm niemals zutrauen, dass er einer Frau mit einem Holzscheit auf den Kopf schlug, um ihre Wertsachen zu erbeuten! Wie skrupellos musste so ein Kind sein?
Zögernd fuhr sie mit dem Zeigefinger über das Fensterglas. Ob sie dem Kind, das Lina angegriffen hatte, unrecht tat? Sie kannte doch inzwischen die drangvolle Enge im Scheunenviertel, die Not und Entbehrungen, die viele der Menschen zu erleiden hatten. Was wusste sie schon davon, wie ein Kind reagierte, wenn es Nahrung oder Geld für Medikamente oder für die Miete des heruntergekommenen, überfüllten Zimmers brauchte, in dem es hauste?
Ein Räuspern von Lina unterbrach ihre Überlegungen. »Ich wollte nur die niedliche Katze streicheln, daher folgte ich ihr aus dem Torbogen.
Zwei Straßen weiter wurde ich gewahr, dass ich mich hoffnungslos verlaufen würde, wenn ich nicht unverzüglich umkehrte. Ich war noch nicht weit gekommen, als plötzlich dieser Junge um eine Hausecke kam und direkt in mich hineinlief. Ich stürzte beinahe, was er wohl geplant hatte, denn er nutzte meine Hilflosigkeit, um mir meine Handtasche zu entreißen.« Lina holte tief Luft, erzählte aber sofort weiter, während die beiden anderen Mädchen begierig lauschten.
»Allerdings hatte der Bursche nicht damit gerechnet, dass ich ihn am Arm erwischen würde. Er stürzte, und ich beschimpfte ihn und zwang ihn dann, mich zu seiner Mutter zu bringen. Schließlich sollte er nicht ungeschoren davonkommen.«
»Aber Lina, in diesen Gassen nur der Führung eines kriminellen Kindes ausgesetzt …?« Entsetzt über Linas Idee schüttelte Margarete den Kopf.
»Es war eine Dummheit, das ist mir mittlerweile auch klar. Aber in dem Augenblick war ich einfach nur entrüstet und wollte dem Kerl eine Lektion erteilen.«
Demy schenkte Lina ein Lächeln. Wie gut konnte sie sowohl ihre Wut auf den kleinen Dieb als auch ihre unbedachte Handlungsweise verstehen. Mit großer Wahrscheinlichkeit hätte Demy nicht minder unüberlegt gehandelt.
»Jedenfalls führte er mich wohl durch das ganze Viertel und wieder zurück, bis mir auffiel, dass er mich nur in die Irre leitete. In der Zwischenzeit hatte ich ausreichend Gelegenheit, ihn mir eingehend anzusehen. Er war schmutzig, trug keine Schuhe, aber fadenscheinige, löchrige Kleidung und sein Haar war schrecklich verfilzt. Da ahnte ich, dass der Junge womöglich gar kein Zuhause, gar keine Eltern hat.«
Ihr Erzählfluss wurde durch einen unterdrücken Aufschrei von Margarete unterbrochen. »Du denkst …? Aber du sagtest doch, er sei noch ein Kind? Es kann doch nicht allein auf sich gestellt in diesen Gassen hausen!«
»Liebe Margarete, ich fürchte, es gibt viele heimatlose Kinder in den Straßen Berlins. Warte nur, bis ich zu Ende erzählt habe!«, stieß Lina hervor. »Jedenfalls stellte ich ihn zur Rede, und er gab widerwillig ein paar Antworten. Sie bestätigten meinen Verdacht. Also bat ich ihn, mich zurückzubringen, und da erst bemerkte ich, wie abhängig ich in diesem Wirrwarr aus Plätzen, Straßen und Gassen von ihm war.« Lina zuckte verlegen mit den Schultern. «Er führte mich, nun zielstrebiger, wie es mir schien, durch unendlich viele verdreckte, düstere Hinterhöfe, bis mir plötzlich jemand einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf versetzte. Drei
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