Himmel ueber fremdem Land
Lesezirkel vorgekaut haben. Und Frau Dohm hat recht, wenn sie sagt, dass man sich auf dem Gebiet der Frauenfrage immer wie ein Wiederkäuer vorkommt. Wenn nicht mal unsere Genossinnen begreifen, was sie sich mit der Beschränktheit ihrer Ansichten selbst antun!«
»Ich finde deine Worte beleidigend. Bemerkst du das nicht? Du darfst argumentieren und eine andere Sicht der Dinge vertreten, als ich es tue. Denn ohne deutliche Worte wird sich nichts ändern, dessen bin ich mir bewusst, selbst wenn ich manche deiner Ansichten für überzogen halte. Aber beleidigen lassen muss ich mich nicht, nur weil ich einen anderen Standpunkt habe als du.«
»Du hast recht, entschuldige bitte«, lenkte Lieselotte ein.
»Können wir das Thema wechseln?«, schlug Demy daraufhin vor.
»Ich war heute im Rahmen eines Treffens von uns jüngeren Frauenrechtlerinnen aus dem Verein Frauenwohl bei einer Veranstaltung des Arbeiterjugendvereins«, fuhr Lieselotte fort, als habe sie Demys Bitte nicht vernommen. »Und ich sage dir, wir leben in einer aufregenden Zeit. Stell dir das nur einmal vor: Nach den preußischen Landtagswahlen im Juni hat die SPD trotz des Dreiklassenwahlrechtes sagenhafte sieben Sitze erhalten 42 . Männer wie der im Waisenhaus aufgewachsene Robert Leimert oder Karl Liebknecht sind Mitglieder im preußischen Abgeordnetenhaus! Und das, obwohl Liebknecht momentan noch aufgrund seiner veröffentlichten Schriften 43 wegen Hochverrats im Gefängnis sitzt!«
Lieselotte berichtete enthusiastisch weiter: »Endlich wird das gemeine Volk gehört werden müssen. Auch wir Frauen vom Verband fortschrittlicher Frauenvereine und die Mitglieder der Arbeiterjugendvereine haben unseren Anteil an diesem bahnbrechenden Wahlsieg, denkst du nicht auch? Und gemeinsam fordern wir, dass endlich Jugendliche unter sechzehn Jahren geschützt werden und Lehrlinge und ihre Schwierigkeiten bei den Lehrherren genug Aufmerksamkeit bekommen, damit nie wieder ein Lehrling aus Verzweiflung über seine Behandlung und Ausbeutung in den Freitod geht.«
Demy nickte lahm. Sie wusste um die Entstehung des Arbeiterjugendvereins und deren Anlehnung an die Gewerkschaften und die SPD. Paul Nähring war einer der vielen Jugendlichen dieser Zeit, der von seinem Vater in die Obhut des Lehrherrn übergeben worden war. Da er wie die meisten Lehrlinge in der Familie des Arbeitgebers lebte, musste er, wie allgemein üblich, nach der Arbeit noch im Haushalt mithelfen.
Eines Tages war der junge Mann verschwunden. Man fand ihn schließlich erhängt im Berliner Grunewald. Sein Körper war von unzähligen alten und frischen Wunden und Blutergüssen gezeichnet gewesen, die ihm offensichtlich von seinem Lehrherrn beigebracht worden waren.
Dass der Verein gegen derartige Praktiken anging, fand Demy sehr lobenswert, was ihr jedoch nicht behagte waren die radikalen Führer der SPD, Männer wie Karl Liebknecht. Wie Demy aus Gesprächsfetzen der Meindorff-Männer und ihrer Gäste gehört hatte, hatten diese Parteiführer es sich zum Ziel gesetzt, die Jugend anzustacheln, damit sie aktiv in die Klassenkämpfe eingriff. Die aggressive Rhetorik, die Lieselotte voll und ganz übernommen hatte, so wie sie auch die Lehren Minna Cauers und Hedwig Dohms förmlich in sich aufzusaugen schien, machte Demy Angst.
Nicht nur sie hatte gehört, dass nicht einmal die große Mehrheit der SPD unter August Bebel und Karl Kautsky hier beschwichtigen konnte, obwohl diese Gemäßigten prognostizierten, der Kapitalismus, wie er gegenwärtig im Deutschen Reich herrsche, werde über kurz oder lang von allein zu Staub zerfallen und die Macht an die SPD übergehen. In dem Wahlsieg vergangenen Juni sahen sie einen ersten Beginn dieses Verfalls.
»Wir müssen die Hände unserer jungen Leute vor der Ausbeutung schützen und unsere Köpfe vor der Verdummung!«, fuhr Liselotte fort. »Weshalb gibt man uns nicht das Recht, über unser Land, in dem wir leben, selbst zu bestimmen? Der Kaiser und alle seine Adeligen sind nicht besser oder intelligenter als wir! Und sieh dir an, was sie tun. Ihre Überheblichkeit, ihr Stolz, ihr Traditionalismus führen uns mehr und mehr an den Rand eines Krieges! Und wer steht im Falle eines solchen in der ersten Reihe? Wir, das gemeine Volk, die Jugend! Und wer befiehlt über uns, hetzt uns auf den Gegner und sieht zu, wie wir einer nach dem anderen erschossen werden? Diejenigen, die den Krieg heraufbeschwören würden: der Adel! Die Führungsebene des Militärs ist durchsetzt
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