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Wölfe der Nacht

Wölfe der Nacht

Titel: Wölfe der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Percy
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PROLOG
    Sein Vater kam mit dem Gewehr auf ihn zu. Für Justin, der an seinem Schreibtisch saß und Hausaufgaben machte, schienen sowohl sein Vater als auch die Waffe immer größer zu werden, so dass er, als er die Waffe erhielt, gar nicht wusste, ob er stark genug sein würde, sie zu halten. In Gegenwart seines Vaters hatte er sich immer so gefühlt, als wäre alles größer als er.
    Sein Vater sagte, er wolle ihm etwas zeigen, aber er sagte nicht, was. Er sagte Justin nur, er solle mit ihm kommen. Das passierte in Bend, Oregon, wo sie in einem Holzhaus inmitten von gut vier Hektar Wald wohnten.
    Im Augenblick, als sie von der Veranda stiegen, kam, wie aufs Stichwort, ein Geräusch aus dem Wald, langsam wie Rauch. Es klang wie eine weinende Frau. Justin – der zu der Zeit zwölf war – spürte, wie sich vor Schreck seine Adern verengten. »Was ist das?«, fragte er. »Was zum Teufel ist das?«
    »Sei kein Weichei«, antwortete der Vater über die Schulter. Inzwischen war er einige Schritte vor Justin und ging über den Rasen, ein bräunliches Grasstück, übersät mit Kiefernnadeln. »Und sag nicht Teufel.« Am Waldrand merkte er, dass Justin ihm nicht gefolgt war, und drehte sich um. »Na komm«, sagte er.
    Nun folgte ein Augenblick der Stille, in dem er Justin zu sich winkte, und Justin sich das Gewehr fester an die Brust drückte. Dann fing das Geräusch wieder an, schärfer und lauter als zuvor, es erinnerte Justin an Metall, das über eine Feile schabte. Sogar sein Vater – der ein großer Mann mit einem moosigen Bart und einem Bauch wie ein Bierfass war – zuckte zusammen.
    Es war diese Zwischenzeit des Tages, nicht mehr Nachmittag und noch nicht Abend, in der die Luft allmählich purpurn und dicht wird. Sobald sie den Wald betraten, legten die Kiefern Schwarz auf alle Dinge, und durch ihre Nadeln fiel ein feuchter Wind, der den Geruch der nahen Berge, der Cascades, mit sich brachte.
    Eine Zeit gingen sie über einen gut ausgetretenen Pfad, einer der vielen, die sich durch ihr Grundstück wanden wie endlose Schlangen. Das Schreien dauerte an, klang manchmal laut und manchmal leise, wie eine Sirene, die das Ende der Welt ankündigt. Es legte sich auf Justins Gedanken und Empfindungen, so dass er sich vorkam, als würde er in einer Kiste stecken, in der nur dieses schreckliche Geräusch ihm Gesellschaft leistete. Alles schien zu zittern, wenn es sich durch die Luft schleppte.
    Sie gingen, so schnell sie konnten, weniger aus Neugier oder Mitleid, sondern weil sie unbedingt Stille brauchten. Sie hassten dieses Geräusch – seine klagend wirre Musik – so sehr sie sie fürchteten.
    Und dann sah Justin ihn zwischen den Bäumen. Der tintige Glanz seiner Augen und seine riesigen Ohren, die flach an seinem dreieckigen Schädel lagen, dann die Masse seines Körpers. Blut triefte an ihm herunter, befeuchtete seinen schwarzen Pelz und die Erde darunter.
    »O Mann«, seufzte sein Vater.
    Es war ein Bär – vielleicht ein Jahr alt, aber kein Junges mehr, groß genug, um Schaden anzurichten –, und er hing in einem Stacheldrahtzaun, dessen einzelne Stränge kreuz und quer über seinen Körper liefen. Bis zum heutigen Tag erinnert Justin sich sehr deutlich an das Blut. Es war der perfekte Rotton. Bis zum heutigen Tag will Justin einen Oldtimer – vielleicht einen Mustang oder Aston Martin, wie James Bond ihn fuhr – in genau dieser Farbe.
    Der Bär ließ verwirrt den Kopf sinken und atmete in kurzen, nervösen Stößen, bevor er wieder ein Heulen ausstieß, einen schrillen Ton, der sich zu einem Bariton-Stöhnen absenkte, als würde man eine Posaune einziehen. Unter seinem Pelz zuckten und rollten die Muskeln.
    Justin stand hinter einem Gebüsch aus Goldastern, als wollte er sich vor dem Tier schützen. Der Strauch roch toll. Er roch zuckrig. Er roch, wie die Farbe Gelb riechen sollte. Indem er sich ganz und gar darauf konzentrierte, entfernte er sich aus dem Wald und konnte so die Tränen zurückhalten, die in seine Augen drängten.
    Dann sagte sein Vater: »Ich will, dass du ihn tötest.«
    Einfach so. Als wäre das Töten so einfach wie einen Baseball aus dem Handgelenk zu werfen oder einen Vergaser zu reparieren.
    Das passierte vor sehr langer Zeit. Vor dreißig Jahren. Trotzdem belastet Justin diese Erinnerung noch immer. Wenn er seine Schüler unterrichtet oder das Baby spürt, das sich im Bauch seiner Frau bewegt, oder wenn er halb träumend im Bett liegt, taucht der Bär manchmal aus dem Schatten auf,

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