Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)
London.«
»Ja, das haben Sie mir damals erzählt.«
»Sie haben das hervorragend gemacht. Die Stiefel sind immer noch in Ordnung. Hervorragend, Herman. Sie tun hier gute Arbeit. Sie tun ehrliche Arbeit.«
»Schön.« Herman warf rasch einen Blick auf den Schuh in seiner Hand. Mr McCauley wusste, dass der Mann wieder an die Arbeit gehen wollte, aber er konnte ihn nicht loslassen.
»Mir sind gerade die Augen geöffnet worden. Ein richtiger Schock.«
»Ist wahr?«
Der alte Mann zog den Brief hervor und las Stellen daraus vor, unterbrach sich immer wieder mit grimmigem Gelächter.
»Bronchitis. Er sagt, er leidet an Bronchitis. Er weiß nicht, wohin er sich wenden soll.
Ich weiß nicht, an wen ich mich wenden soll.
Dabei weiß er immer, an wen er sich wenden soll. Wenn er alles andere ausgeschöpft hat, bin ich dran.
Ein paar Hundert, nur bis ich wieder auf den Beinen bin.
Fleht und bettelt mich an, und die ganze Zeit über macht er mit meiner Haushälterin gemeinsame Sache. Haben Sie das gewusst? Die beiden haben unter einer Decke gesteckt. Diesem Mann habe ich ein ums andere Mal aus der Klemme geholfen. Und nie einen Penny zurückbekommen. Nein, nein, ich muss bei der Wahrheit bleiben und sagen: fünfzig Dollar. Fünfzig von Hunderten und Aberhunderten. Von Tausenden. Er war im Krieg bei der Luftwaffe, wissen Sie. Diese klein geratenen Burschen, die waren oft bei der Luftwaffe. Stolzierten herum und bildeten sich ein, sie seien Kriegshelden. Ich sollte das wohl nicht sagen, aber ich glaube, der Krieg hat einige von diesen Burschen verdorben, sie konnten hinterher nicht mehr mit dem Leben zurechtkommen. Aber das ist keine ausreichende Entschuldigung. Oder? Nur wegen des Krieges kann ich ihm nicht ewig alles nachsehen.«
»Nein, das können Sie nicht.«
»Dabei wusste ich von Anfang an: Dem ist nicht zu trauen. Das ist ja das Merkwürdige. Ich habe es gewusst und mich trotzdem von ihm einseifen lassen. Es gibt solche Menschen. Man erbarmt sich ihrer, einfach weil sie nun mal Halunken sind. Ich habe ihm da draußen diese Versicherungsvertretung besorgt, ich hatte so meine Verbindungen. Natürlich hat er alles verpfuscht. Ein Nichtsnutz. So sind eben manche.«
»Da haben Sie Recht.«
Mrs Shultz war an dem Tag nicht im Geschäft. Stand nicht wie sonst hinter dem Ladentisch und nahm die Schuhe an, zeigte sie ihrem Mann und berichtete, was er gesagt hatte, stellte die Reparaturscheine aus und nahm das Geld entgegen, wenn die wiederhergestellten Schuhe zurückgegeben wurden. Mr McCauley fiel ein, dass sie im Sommer wegen irgendwas operiert worden war.
»Ihre Frau ist heute nicht da? Geht es ihr gut?«
»Sie meinte, besser, sie tritt heute mal kürzer. Ich habe meine Tochter hier.«
Herman Shultz nickte zu den Regalen rechts vom Ladentisch, wo die fertigen Schuhe standen. Mr McCauley wandte den Kopf um und sah Edith, die Tochter, die er beim Hereinkommen nicht bemerkt hatte. Ein kindhaft dünnes Mädchen mit glattem schwarzen Haar, das ihm beim Umordnen der Schuhe den Rücken zuwandte. Genauso, fiel ihm auf, war sie immer in sein Blickfeld geglitten und wieder verschwunden, wenn sie als Sabithas Freundin in sein Haus kam. Nie kriegte man ihr Gesicht richtig zu sehen.
»Du wirst jetzt deinem Vater aushelfen?«, sagte Mr McCauley. »Du bist mit der Schule fertig?«
»Heute ist Samstag«, sagte Edith und wandte sich dabei mit leisem Lächeln ein wenig um.
»Ach ja. Jedenfalls ist es gut, dass du deinem Vater hilfst. Du musst dich um deine Eltern kümmern. Sie haben schwer gearbeitet, und es sind gute Menschen.« Mit leicht entschuldigender Miene, als wüsste er, wie salbungsvoll er redete, sagte Mr McCauley: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in …«
Edith sagte etwas, das nicht für seine Ohren bestimmt war. Sie sagte: »In der Schusterei.«
»Ich stehle Ihnen die Zeit, ich dränge mich auf«, sagte Mr McCauley traurig. »Sie haben zu tun.«
»Du brauchst gar nicht sarkastisch zu sein«, sagte Ediths Vater, als der alte Mann gegangen war.
Beim Abendessen erzählte er Ediths Mutter alles über Mr McCauley.
»Er ist wie verwandelt«, sagte er. »Er hat irgendwas.«
»Vielleicht einen kleinen Schlaganfall«, sagte sie. Seit ihrer Operation – Gallensteine – sprach sie sachkundig und mit sanfter Genugtuung von den Leiden anderer Leute.
Da nun Sabitha fort war, in ein anderes Leben entschwunden, das offenbar immer auf sie gewartet hatte, verwandelte Edith sich
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