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Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition)

Titel: Himmel und Hölle: Neun Erzählungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alice Munro
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Hoffnung, auch Edith könnte eines Tages in einem Büro Arbeit finden.
    »Liebe Johanna«, sagte Sabitha, »es tut mir leid, ich kann dich nicht lieben, weil du das ganze Gesicht voll hässlicher Pickel hast.«
    »Ich meine es ernst«, sagte Edith. »Also halt den Mund.«
    Sie tippte: »Ich war so froh, den Brief zu erhalten …«, sprach die Worte ihres Werkes laut, machte eine Pause, wenn sie nachdachte, und ihr Tonfall wurde immer feierlicher und zärtlicher. Sabitha räkelte sich auf dem Sofa und kicherte. Irgendwann stellte sie den Fernseher an, aber Edith sagte: »Also bitte! Wie soll ich mich bei dieser Kacke da auf meine Gefühle konzentrieren?«
    Edith und Sabitha benutzten die Wörter »Kacke« und »Sau« und »Himmel Arsch«, wenn sie allein waren.
    Liebe Johanna,
    ich war so froh, den Brief zu erhalten, den Sie zu Sabithas getan haben, und etwas über Ihr Leben zu erfahren. Es muss oft ein trauriges und einsames Leben gewesen sein, obwohl es für Sie offenbar ein Glück war, jemanden wie Mrs Willets zu finden. Sie waren immer fleißig und haben sich nie beklagt, und ich muss sagen, ich bewundere Sie sehr. Mein Leben war recht bewegt, und ich habe mich nie häuslich niedergelassen. Ich weiß nicht, woher diese innere Ruhelosigkeit und Einsamkeit kommen, sie sind wohl einfach mein Schicksal. Ich bin immer mit Menschen zusammen und rede mit vielen, aber manchmal frage ich mich: Wer ist mein Freund? Dann kommt Ihr Brief, und Sie schreiben am Ende: Ihre Freundin. Also überlege ich: Meint sie das wirklich? Und was für ein schönes Weihnachtsgeschenk das für mich wäre, wenn Johanna mir sagen würde, dass sie meine Freundin ist. Vielleicht haben Sie einfach gedacht, dass es eine nette Art ist, einen Brief zu beenden, und dass Sie mich eigentlich nicht gut genug kennen. Jedenfalls fröhliche Weihnachten.
    Ihr Freund
    Ken Boudreau
    Der Brief wanderte nach Hause zu Johanna. Der an Sabitha war schließlich noch abgetippt worden, denn warum sollte einer mit der Schreibmaschine geschrieben sein und der andere nicht? Sie waren diesmal sparsam mit dem Dampf umgegangen und hatten den Umschlag sehr vorsichtig geöffnet, damit kein verräterischer Tesafilm nötig war.
    »Warum konnten wir nicht einen neuen Umschlag tippen? Das hätte er doch gemacht, wenn er den Brief mit der Schreibmaschine geschrieben hätte?«, sagte Sabitha und hielt sich für schlau.
    »Weil auf einem
neuen
Umschlag kein Poststempel wäre. Dummchen.«
    »Was, wenn sie ihn beantwortet?«
    »Dann lesen wir ihn.«
    »Ja, aber was, wenn sie antwortet und den Brief direkt an ihn schickt?«
    Edith mochte nicht zeigen, dass sie daran nicht gedacht hatte.
    »Das macht sie nicht. Die ist gerissen. Jedenfalls schreibst du ihm gleich zurück, damit sie auf die Idee kommt, sie kann ihren Brief wieder zu deinem stecken.«
    »Ich hasse das, diese blöden Briefe schreiben.«
    »Ach, mach schon. Du wirst nicht dran sterben. Willst du nicht wissen, was sie schreibt?«
    Lieber Freund,
    Sie fragen mich, ob ich Sie gut genug kenne, um Ihre Freundin zu sein, und meine Antwort ist: ja. Ich habe nur eine Freundin im Leben gehabt, Mrs Willets, die ich geliebt habe, und sie war sehr gut zu mir, aber sie ist tot. Sie war wesentlich älter als ich, und das Problem mit älteren Freunden ist, sie sterben und verlassen einen. Sie war so alt, dass sie mich manchmal mit dem Namen von jemand anders gerufen hat. Aber das hat mich nicht gestört.
    Ich möchte Ihnen etwas Merkwürdiges erzählen. Die Aufnahme, die Sie von dem Fotografen auf dem Jahrmarkt machen ließen, die habe ich vergrößern und rahmen lassen und ins Wohnzimmer gestellt. Es ist keine sehr gute Aufnahme, und er hat Ihnen mehr als genug Geld dafür abgenommen, aber sie ist besser als nichts. Und als ich vorgestern darum Staub wischte, bildete ich mir ein, ich hörte Sie Hallo zu mir sagen. Hallo, sagten Sie, und ich sah mir Ihr Gesicht an, soweit man es in der Aufnahme erkennen kann, und ich dachte: Jetzt verliere ich den Verstand. Oder es muss ein Zeichen sein, dass ein Brief kommt. Ich mache nur Spaß, ich glaube nicht wirklich an solche Dinge. Aber dann kam gestern ein Brief. Sie sehen also, es ist nicht zu viel von mir verlangt, Ihre Freundin zu sein. Ich werde immer eine Beschäftigung finden, aber ein wahrer Freund ist etwas ganz anderes.
    Ihre Freundin
    Johanna Parry
    Natürlich konnte das nicht wieder in den Umschlag gesteckt werden. Sabithas Vater würde merken, dass etwas faul war, wenn er die

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